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Marlene Hagen hatte vergeblich versucht, zu erfahren, wessen Opferwilligkeit sie vor lebenslänglicher Entstellung bewahrt hatte. Sie bat den Chirurgen aufs neue, ihr doch den Menschen zu nennen, in dessen Schuld sie noch mehr stehe, als in der seinen. „Zwar wird es Jahre dauern, bis ich Ihnen die Kosten meiner Operation und meines Aufenthalts hier bezahlt haben werde!“ klagte sie. „Aber immerhin, es wird möglich sein. Wie jedoch kann ich der Frau danken, die mir half?“
„Machen Sie sich keine Sorgen, weder um das eine noch um das andere“, tröstete Schrombeck. Dann wies er die Pflegerin an, Marlenes Bett ans offene Fenster zu rollen, damit sie den Blick in den blühenden Park geniessen könne. „Seien Sie zufrieden, dass Ihr Leichtsinn einen so verhältnismässig glimpflichen Abschluss für Sie genommen hat! In zwei Wochen wird Ihrem Antlitz nur noch wenig anzusehen sein; ein paar schmale Narben, die aber so glücklich sitzen, dass Haar- und Halsansatz sie fast verdecken. Und was Ihre Wohltäterin anbelangt, wie Sie die Dame nennen, respektieren Sie deren Wunsch, für Sie eine Unbekannte zu bleiben. Sie möchte das, damit Sie niemals das Gefühl haben, noch einem Menschen mehr verpflichtet zu sein!“
Dann war er gegangen, und die Genesende hatte stundenlang Zeit, über die geheimnisvolle Persönlichkeit nachzudenken, deren Inkognito so streng gewahrt wurde. Da Hanna Sturm kaum zwei Tage, in der Klinik geblieben war, bot das keine Schwierigkeiten. Schwester Anna wäre lieber gestorben, als einem Befehl ihres Geheimrats, mit dem sie bald zwanzig Jahre zusammenarbeitete, ungehorsam zu sein. Sie hatte über den Namen der Patientin von Nr. 22, deren Zimmer ausser ihr nur eine zuverlässige Privatpflegerin der Journalistin betreten durfte, strengstes Stillschweigen zu bewahren, und das geschah. Da Marlene in einem anderen Flügel der geräumigen Klinik untergebracht war als Hanna Sturm, konnte niemand auch nur den geringsten Zusammenhang zwischen den Patientinnen annehmen. Also blieb für Marlene kein Weg, herauszubekommen, wer so selbstlos für sie eingetreten war. Aber dies Grübeln war für einen einsamen Menschen, wie Marlene, Gift. Ihre unnütze Existenz kam ihr wieder schmerzvoll zum Bewusstsein. Solange sie noch in der friedlichen Hut des Sanatoriums hier war, hatte sie ja keine unmittelbare Sorge. Aber diese Zeit war ja nun bald zu Ende. Was sollte sie dann beginnen? Die Arbeitsmöglichkeiten waren für die Zukunft genau so trostlos wie in der Vergangenheit. Sie stand in wenigen Tagen ebenso vor dem Nichts, wie zur Zeit ihres Unfalls.
Zaghaft hatte sie den Geheimrat gefragt, ob er nicht irgendeine Arbeit für sie wüsste. Vielleicht, dass er sie in seinem Sanatorium als Helferin aufnehmen konnte. Aber Schrombeck hatte ihr diese kleine Hoffnung sofort zerstören müssen. „So gern ich Ihnen persönlich helfen würde, Fräulein Hagen, das ist ganz unmöglich. Krankenpflegerinnen bedürfen einer jahrelangen Ausbildung für ihren schweren Beruf. Ausserdem müssen sie auch die seelische Eignung dafür haben, dürfen nicht zart und weich sein wie Sie. Alles, was mit Kranken zu tun hat, muss eine gewisse Robustheit besitzen. Ohne die ist man dem Mitleid hilflos ausgeliefert. Damit ist auch den Kranken nicht gedient. Aber ich verspreche Ihnen, wenn Sie erst ganz wieder hergestellt sind, werde ich sehen, wo ich Sie unterbringen kann. Ich habe einen grossen Kreis und viele Menschen, die mir verpflichtet sind. Es müsste doch merkwürdig zugehen, wenn ich für so ein kleines verschüchtertes Hühnchen, wie Sie, kein Unterkommen fände.“
Doch es schien, als hätte sich alles gegen Marlene Hagen verschworen. Geheimrat Schrombeck bekam plötzlich einen Kabelruf nach Neuyork. Ein amerikanischer Wirtschaftsführer, der in Schrombecks Sanatorium von einer tückischen Krankheit gerettet worden war, rief ihn zur Behandlung seines einzigen Sohnes herüber. Zugleich bat das Carnegie-Institut Schrombeck um eine Gastvorlesung.
Schrombeck hatte ohnehin seinen Urlaub jetzt nehmen wollen. Die amerikanische Reise passte ihm gut in seine Dispositionen. So sagte er zu. In aller Eile wurden die Vorbereitungen zu der Amerikafahrt getroffen. Schrombeck hatte natürlich noch unendlich viel zu tun, um die wichtigsten Fälle in seiner Praxis selbst zu erledigen. So wurden die beinahe geheilten Patienten den Assistenzärzten überlassen. Zu ihnen gehörte auch Marlene. Der Geheimrat hatte zwar die Absicht gehabt, sich von Marlene noch persönlich zu verabschieden. Im letzten Augenblick jedoch, einen Abend vor der Abreise, kam noch eine schwere Operation für ihn. Mit Mühe und Not erreichte er noch seinen Zug nach Bremen.
Marlene war von tiefer Mutlosigkeit ergriffen, als sie am nächsten Tage von Schwester Marianne Schrombecks Abreise erfuhr. Wieder war eine Hoffnung vernichtet worden. Sicherlich hatte der Geheimrat in seiner überhasteten Abfahrt keine Zeit mehr gefunden, an die Empfehlungen für sie zu denken. Wie sollte er auch? Sie war ja so ein kleines unbedeutendes Etwas. Überdies, sie wusste nur zu genau, wie es im Leben zuging. Justizrat Lerch hatte damals auch sich für sie verwenden wollen. Da sie sich nicht getraut hatte, ihn an sein Versprechen zu erinnern, hatte er sie vergessen. Ein Mann wie Lerch, und noch mehr ein Mann wie Geheimrat Schrombeck hatten an anderes zu denken als an ein armes vorbestraftes Menschenkind.
Sie wagte gar nicht, den Assistenzarzt zu fragen, ob Schrombeck eine Botschaft für sie hinterlassen hätte. Sicherlich würde er sie erstaunt ansehen und ihre Frage geradezu für grössenwahnsinnig halten.
So lag Marlene heute, das fast geheilte Gesicht nur von leichten Mullbinden bedeckt, auf einer Wiese des Klinikgartens und grübelte vor sich hin. Um sie herrschte lautlose Stille, die nur durch das Summen einer Biene, durch das Zwitschern eines Vogels unterbrochen wurde. Marlenes Oberkörper lag im Schatten, auf dem leichten Kleide spielten Sonnenkringel hin und her. Neben ihr, auf einem niedrigen Hocker, lagen Bücher. Obst, Schokolade und ein Glas Sahne verlangte gebieterisch, genossen zu werden. Sogar Zigaretten und Feuerzeug standen der Patientin zur Verfügung, aber nichts von all den guten Dingen lockte sie.
„In einer Woche werden Sie wieder mobil sein, gnädiges Fräulein!“ hatte der Assistenzarzt bei seiner heutigen Morgenvisite zu ihr gesagt. Er stammte aus Süddeutschland, und Marlenes Vergangenheit und ihr verzweifelter Existenzkampf waren ihm völlig fremd. Was ahnte er von den Sorgen und Nöten dieses jungen Mädchens, das verzweifelt versuchte, Arbeit zu bekommen, und das in seinen Bemühungen immer wieder Rückschläge erlebt hatte.
„Für wen lebe ich denn eigentlich?“ sagte sie sich trostlos. „Keiner kümmert sich um mich, und es gibt niemand, dem meine Gegenwart auch nur das geringste bisschen Freude bereitet ...“ Das Surren eines Flugzeugs unterbrach Marlenes Grübeln. Es zog seine grossen Kreise in der Luft und liess Marlene emporschauen und heiss erröten; sie wusste, wer da oben über ihr war. Es war Walter Jansen. Der waghalsige Pilot flog mit seiner Maschine auffallend niedrig. Deutlich erkannte Marlene das grellgelbe Sportflugzeug wieder, das ihr selbst seinen poetischen Namen verdankte. Die „Libelle“, deren graziöse Form durch den schimmernden Sonnenglast noch unterstrichen wurde, machte ihrem Namen alle Ehre. Die halsbrecherischen Rücken- und Sturzflüge, die ihr Lenker ausführte, würde ihm bestimmt so leicht kein Konkurrent nachmachen. — Wie oft hatte sie ihn früher am Zeichentisch gesehen und gesprochen, ehe sie das Vertrauen seines Vaters täuschte, dessen Sekretärin sie damals war. Stets, wenn sie das Büro des alten Herrn verliess, der die grosse amerikanische Rohfilmniederlage in Deutschland hatte, musste sie den Saal passieren, in dem der Sohn immer neue, flugtechnische Probleme erdachte und an winzigen Modellen zu lösen versuchte. Das Interesse des jungen Mädchens an seiner Arbeit hatte Walter erfreut. Als er an einem schönen, klaren Herbstnachmittag seine erste, selbstkonstruierte Sportmaschine in Auftrag gab, hatte er Marlene aufgefordert, ihn zu begleiten.
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