Der Laster fuhr nach dem Zusammenstoß ebenfalls noch hundertfünfzig Meter weiter auf der spiegelglatten Straße, ehe der Fahrer ihn zum Halten bringen konnte. Der kleine Volkswagen Käfer war unter dem riesigen Truck zusammengedrückt und mitgeschleift worden. Es dauerte eine Stunde, ihn herauszuschneiden und den toten Körper von Olivers Mutter zu bergen.
Erst nach ihrem Tod wurde Oliver wirklich bewusst, wie viel seine Mutter seinem Vater bedeutet hatte. Sein Vater brach komplett zusammen und ertränkte seine Sorgen im Alkohol. Als die Nachricht von ihrem Unfall kam, weinte er zwölf Stunden lang und betrank sich dann hemmungslos. Am nächsten Tag trank er weiter. Und am nächsten. Und am nächsten. Er wurde nie wieder nüchtern.
Mit der Anwaltskanzlei ging es bergab. Simon Bendini war kaum dort, und wenn er doch auftauchte, war er betrunken. Die besten Mitarbeiter kündigten und die Mandanten blieben schnell weg.
Oliver ging nicht mehr zur Arbeit und niemand sagte etwas dazu.
Sechs Monate dauerte der Verfall, dann ging die zuvor so renommierte Kanzlei in Konkurs. Am Abend der Konkursanmeldung erschoss sich Simon Bendini durch den Mund mit einer Pistole. Oliver fand ihn einige Tage später im Wohnzimmer des Hauses.
Oliver floh vor allem, was mit Jura und der Vergangenheit zu tun hatte. Er hatte keinerlei Verwandte. Nichts hielt ihn zurück und er zog von Montreal nach Québec, wo er dem Militär beitrat.
Oliver mochte das Militärleben. Voller verzweifelter Energie vollzog er das harte physische Training. Seine Vorgesetzten waren beeindruckt und legten ihm eindringlich die Offiziersausbildung nahe. Das passte ihm hervorragend. Seine Begabung und sein Enthusiasmus führten ihn zu glorreichen Erfolgen. Nach sechs Monaten war er Hauptmann.
Aber seine Unruhe und seine Abenteuerlust trieben ihn weiter. Mit dreißig Jahren sah er diese Phase seines Lebens als abgeschlossen an und verließ das Militär. Er verkaufte die wenigen Dinge, die er noch besaß, und verließ Kanada für immer.
Oliver ließ jedoch nicht das militärische Leben hinter sich, denn das war neben Jura die einzige Ausbildung, die er hatte. Ein Leben als Jurist oder Kaufmann interessierte ihn nicht. Stattdessen fuhr er nach Afrika, wo er sich als Söldner in Angola anheuern ließ. Dort war ein regelrechter Freiheitskrieg ausgebrochen und die portugiesische Kolonialmacht versuchte mit allen Mitteln, den Aufstand zu ersticken. Oliver wurde als Hauptmann eingestellt und bekam die Befehlshoheit über eine größtenteils internationale Kompanie der portugiesischen Armee.
In Afrika wurde er zum Mörder.
Und zu Ray Lambert.
Als Oliver nach Angola kam, war er noch nie im Krieg gewesen und hatte noch nie einen Menschen getötet, obwohl er sechs Jahre lang Berufssoldat gewesen war. Aber in Afrika verlor er seine Unschuld. Als Soldat war Oliver furchtlos und legte oft eine Waghalsigkeit an den Tag, die an Todesverachtung grenzte. Er stand all dem Leiden um sich herum vollkommen eiskalt und indifferent gegenüber. Das führte dazu, dass ein Major in seinem Bataillon auf ihn aufmerksam wurde.
Oliver wurde eines Tages mit zwei anderen Befehlshabern – einem englischen Fähnrich und einem deutschen Sergeant aus der gleichen Kompanie – zu Major de Macedos Expedition beordert. Als sie sein Büro betraten, schickte der Major sofort seinen Adjutanten raus. Er wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte und wandte sich an die drei Männer.
„Ich möchte klarstellen, dass nichts, das in diesem Raum gesagt wird, weitergesagt wird. Verstanden?“
Er machte eine kurze Pause und sah sie an. Sie nickten.
Der Major nahm eine Zigarette aus dem Aschenbecher auf seinem Tisch. Plötzlich streckte er überraschend die Zigarettenschachtel zu den Männern und bot ihnen eine Zigarette an. Diese informelle Geste überrumpelte sie.
„Es geht um etwas, das außerhalb des normalen Diensts liegt“, fuhr er mit seiner Erklärung fort und zündete ihre Zigaretten an. „Darum kann ich Ihre Mitarbeit nicht anordnen, aber Sie werden es nicht bereuen. Ich habe Sie gut studiert und bin zu dem Schluss gekommen, dass Sie sehr gut dafür geeignet sind.“
Es ging darum, einen Mord an einem korrupten, hohen Bediensteten in der portugiesischen Verwaltung auszuführen. Ein Bediensteter, der ein politisches Risiko darstellte.
Aber es würde sich zeigen, dass der Grund kein politischer war.
Der Major wusste, dass Dr. António Campos, wie der Mann hieß, zu Hause ein kleines Vermögen verwahrte. Geld, an das er nicht mit sauberen Händen gekommen war.
Es war regelrecht ein rücksichtsloser Raubmord, den Major de Macedo geplant hatte und bei dem er sie dabeihaben wollte. Aber das sagte er nicht so direkt. Aber sie waren lang genug dabei, um es zu verstehen, doch auch sie sagten nichts, nicht einmal untereinander. Der Major würde beim Coup selbst dabei sein und die Belohnung würde reichlich sein. Vielleicht zehntausend Dollar pro Person. Auch daran waren sie gewöhnt. Wenn es bei einem Auftrag etwas zu plündern gab, taten sie es, aber es waren nie derartig hohe Summen.
Für Geld zu töten war den drei Söldnern nicht fremd. Und es war nicht schwer, sie zu überreden.
Das Haus stand auf einem Hügel am Rande des hippen Teils von Luanda. Es stand allein am Ende einer schwach beleuchteten Allee, in der sämtliche Häuser von ummauerten Gärten umgeben waren. Die ganze Gegend war geprägt von belaubtem, künstlich bewässerten Grün, im krassen Gegensatz zu den übrigen Teilen der Stadt und der ausgetrockneten Umgebung.
Das Haus war bewacht. Eine Wache stand am Tor, die andere patrouillierte auf dem Gelände. Der Major glaubte, dass sich im Haus eine dritte Wache befinden könnte.
Die Männer hatten den vom Regiment geliehenen Militärjeep in einer anderen Straße fünfhundert Meter entfernt geparkt. Während Major de Macedo im Auto wartete, verschwanden die drei Söldner Richtung Villa in der Dunkelheit. Oliver schlich sich hinter die Balustrade an der Auffahrt und näherte sich in ihrem Schutz dem Tor. Die Wache stand an einen Steinpfosten gelehnt im Tor unter einer Lampe. Es war viel zu hell. Oliver wartete ab. Nach einer Weile ging die Wache aus der Einfahrt raus und Oliver duckte sich ans Geländer. Er hörte Schritte in der Nähe. Es knirschte im Kies, dann wurde es still. Er lag still da und hörte, wie ein Streichholz angestrichen wurde, dann roch er Zigarettenrauch. Vorsichtig linste er über die Kante und sah gegen die Laterne die Silhouette des Mannes, der ein paar Meter von ihm entfernt rauchte. Er befand sich außerhalb des Lampenscheins im Dunkeln. Oliver spürte das Adrenalin durch seinen Körper pumpen – wie krabbelnde Ameisen an den Armen entlang bis zu den Fingerspitzen. Er wartete, bis die Wache ihm den Rücken zudrehte.
Im selben Augenblick sprang er über das Geländer, sprintete zu dem Mann und hielt ihm von hinten mit der linken Hand den Mund zu. Gleichzeitig hieb er ihm mit der anderen Hand das Bajonett schräg nach oben in den Brustkorb. Der Mann sank augenblicklich zusammen und Oliver zog ihn unter das Geländer. Oliver bemühte sich um eine ruhige Atmung. Das Blut rauschte durch seinen Körper und das vibrierende Geräusch an den Ohren und Schläfen war ohrenbetäubend. Wie in einem Stummfilm sah er seine zwei Kameraden über die Balustrade in den Garten rennen. Sein Kopf war leer. Reflexartig verließ er das Geländer und rannte hinter ihnen her.
Im Garten teilten sie sich auf und näherten sich dem Haus leise aus verschiedenen Richtungen. An der Garage entdeckte der englische Fähnrich eine Bewegung vor der weißen Mauer: Wache Nummer zwei saß in einem Gartenstuhl, die Hände überm Bauch gefaltet, die Füße gemütlich auf einen Tisch gelegt. Neben ihm lag sein Gewehr im Gras.
Diese Wache wachte nie wieder auf.
Der Fähnrich erwürgte den Mann schnell und effektvoll mit einer Klaviersaite. Er hob den leblosen Körper in die Büsche. Ein schwaches Rascheln der Zweige war der einzige Laut, der von der ganzen Operation zu hören war.
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