„Lassen Sie mich den Koffer nehmen“, sagte er und hob ihn hilfsbereit hoch. Seine ebenmäßigen, weißen Zähne formten ein verbindliches Lächeln.
„Danke, aber das ist nicht nötig, Sie müssen doch weiter!“, protestierte Lennart.
„So eilig ist es nicht. Lass dir von Bert helfen. Ich warte im Auto“, sagte Jack und scheuchte sie mit der Hand weg. Er blieb stehen und sah zu, wie die beiden Männer in der Abflughalle verschwanden, ehe er sich wieder ins Auto setzte.
Lennart ist ein kluger Mann, dachte er zufrieden, wenn er Zeit zum Nachdenken hat, findet er sicher eine Lösung.
Waldenström nahm die Brieftasche mit den Tickets aus der Innentasche und sah sich nach dem Check-In um, sobald er die automatischen Türen passiert hatte.
„Es ist der Tresen da hinten“, sagte Norris und zeigte auf ein SAS-Schild fünfundzwanzig Meter weiter, ohne dass Lennart ihn gefragt hatte.
„Danke“, lachte Lennart. „Ich hatte ihn nicht gesehen.“
Er fühlte sich von Norris‘ aufgedrängter Hilfsbereitschaft leicht bedrängt und fragte sie, wie schnell er ihn loswerden konnte, ohne unhöflich zu sein.
„Ich glaube, jetzt komme ich alleine klar“, setzte er an.
Aber Norris unterbrach ihn mit leiser, verbindlicher Stimme:
„Mr Waldenström, kann ich ein paar private Worte mit Ihnen wechseln?“
Lennart, der sich gerade seinen Koffer hatte schnappen wollen, den Norris abgestellt hatte, hielt verwundert inne. „Ja, natürlich?“
„Es betrifft Ihr Problem …“
„Mein Problem?“
„Ja, das, worüber Sie und Mr Pallon im Auto gesprochen haben. Ich kann Ihnen einen Uhrmacher in Zürich empfehlen.“
Waldenström verstand nicht, was Norris andeuten wollte, aber das unbehagliche Gefühl in ihm drin wuchs. Er sah ihn abwartend an.
„Wie bitte?“
Norris warf einen unauffälligen Blick durch die Halle und beugte sich ein Stückchen näher an ihn heran. Lennart roch sein teures Rasierwasser, das er zu ausgiebig benutzte.
„Der Uhrmacher kann Ihnen helfen … in Kontakt mit Spezialisten zu kommen. Eine spezielle Art von Handwerkern.“
„Ich verstehe Sie nicht“, sagte Lennart. „Wofür sollte ich Spezialisten benötigen?“
„Um unmögliche Probleme endgültig zu lösen!“, fuhr Norris geduldig fort.
Er betonte das Wort „unmöglich“ und sah in Lennarts gespannte Augen.
„Sie meinen …?“ Lennart ließ die Frage in der Luft hängen. Was er dachte, konnte er unmöglich aussprechen. Es war zu erschreckend. Unruhig sah er sich um.
„Ja! Nichts ist unmöglich!“, sagte Norris und grinste so breit wie ein Schuljunge. „Sehen Sie mal!“
Er zog eine Visitenkarte hervor und gab sie Lennart. Auf der maschinengeschriebenen Karte stand „14 Bahnhofstrasse, Zürich“. Lennart drehte sie um. Keine Telefonnummer, kein Name. Er sah Norris fragend an.
„Werden Sie sich an die Adresse erinnern?“, fragte er.
„Bahnhofstrasse 14, ja klar, ich kenne Zürich ganz gut.“
Norris nahm den Zettel und steckte ihn sich wieder in die Brusttasche.
„Gut. Über der Tür steht ‚Uhr und Optik‘. Der Uhrmacher ist um die sechzig, oben Glatze, weiße Haare an der Seite, man kann sich nicht irren. Arbeitet allein im Laden. Bestellen Sie eine Uhr namens ‚Clockwork tide‘.“
„‘Clockwork tide‘?“
Norris nickte.
„Ja. Sagen Sie, dass ein Tiefseetaucher ihn empfohlen hat.“
„Tiefseetaucher?“, sagte Lennart und kam sich blöd vor, weil er jedes Wort des Amerikaners wiederholte.
Norris nickte erneut, aber vermutlich sah Lennart skeptisch aus, denn Norris wurde plötzlich ernst und sagte mit gewissem Nachdruck:
„Geben Sie dort keine Details preis. Hinterlassen Sie einen versiegelten Brief. Der Uhrmacher sorgt dafür, dass der Spezialist ihn bekommt. Mit dem treffen Sie dann Ihre Abmachung. Und noch etwas: Gehen Sie nicht selbst hin. Bitten Sie jemand anderen darum. Je weniger die Person mit Ihnen zu tun hat, desto besser.“
„Verstehe“, sagte Lennart unsicher. „Danke für die Erklärung.“
„Keine Ursache!“, sagte Norris abrupt und streckte die Hand aus. „Und jetzt vergessen wir dieses Gespräch!“
Sein Händeschütteln war hart, amerikanisch und maskulin, und es fühlte sich so an, als wollte er jeden einzelnen Knochen in der Gegenhand brechen.
Homophob, dachte Lennart. Ein Land voller heimlicher Schwuler. Er mochte Mr. Norris nicht und fragte sich, wie Jack es mit ihm aushielt.
„Grüßen Sie Schweden!“, sagte Norris mit einem wolfsgleichen Grinsen, als sich die Flügeltüren hinter Lennart schlossen.
Er hatte viele Namen – aber keiner war der richtige.
Vor einem knappen halben Jahr war er in Südafrika Dennis Clayton gewesen. Ein Jahr früher hatte er in Italien Marcello Capotti geheißen. Richard Miller, Paul Fischer, David Silbermann, François Munot … so viele Namen wie Aufträge.
Sein offizieller Name war Ray Lambert, auch gefühlsmäßig. Den benutzte er nie im Zusammenhang mit Aufträgen. Dieser Name war seine Zuflucht und musste sauber bleiben. Nur äußerst wenige Personen kannten ihn unter diesem Namen und wussten, womit er sein Geld verdiente.
Aber hinter all dem gab es noch einen Namen, den niemand außer ihm kannte. Seine echte Identität, sein erster Name, der seit 23 Jahren auf einem Grabstein in Angola verwitterte, von der Welt vergessen. Der Name, den niemand mehr aussprach. Der echte Name.
Er wurde 1931 als Oliver Bendini in Montreal in Kanada geboren. Seine Eltern hießen Emma und Simon Bendini. Sein Vater war ein angesehener und erfolgreicher Anwalt. Sein Vater fand freilich, dass er noch erfolgreicher gewesen wäre, hätte er keinen italienischen Hintergrund gehabt. Ständig stellte er verbittert fest, dass die richtig reichen Mandanten sich an anglo-sächsische Anwälte wendeten. Trotzdem ermutigte er seinen einzigen Sohn, dieselbe Laufbahn einzuschlagen. Er ermutigte ihn nicht nur, er verlangte es von ihm.
Seine Schulzeit verbrachte Oliver komplett im Internat. Keine andere Ausbildung war gut genug für Simon Bendinis Sohn. Nach der bestandenen Prüfung sollte Oliver umgehend in der trotz allem sehr gut aufgestellten Firma seines Vaters anfangen. Zuerst hatte er kategorisch abgelehnt, wurde dann aber von seiner Mutter überredet. Ihr konnte er nicht widerstehen.
Olivers Vater fand, dass man ganz unten anfangen sollte, wie er es selbst getan hatte. Dann sollte man sich Schritt für Schritt zu der Position hocharbeiten, die man verdiente. Der Vater prägte seinem Sohn gründlich ein, nie etwas als selbstverständlich hinzunehmen, vor allem nicht die Zukunft der Firma. Nur, wenn sein Sohn sich auf die Hinterbeine stellte und seine Arbeitsaufträge mit angemessenem Respekt und Bescheidenheit ausführte, konnte er damit rechnen, in die Gemeinschaft des Büros aufgenommen zu werden. Es würde nicht ohne harte Arbeit funktionieren, falls er das glauben sollte.
Olivers Vater ließ ihn Routinearbeiten ausführen, die Oliver langweilten. Die anderen Angestellten im Büro grinsten heimlich und waren zufrieden, dass der Sohn des Chefs keine Sonderbehandlung bekam.
Aber Oliver musste sich nicht lange in diesem aufgezwungenen Beruf bemühen. An einem frühen Novembermorgen 1955 veränderte sich das Leben der Familie Bendini.
Oliver hasste seinen Vater nicht. Dafür kannte er ihn gar nicht gut genug. Aber er liebt seine Mutter.
Olivers Mutter war Lehrerin. An diesem Morgen fuhr sie wie immer mit ihrem gelben Volkswagen zur Schule. Wie immer war sie spät dran und wie immer fuhr sie viel zu schnell. Ein paar hundert Meter vom Haus entfernt näherte sich seine Mutter der großen Kreuzung, wo der Weg die Hauptstraße zum Stadtzentrum kreuzte. Sehr rechtzeitig sah sie den großen, schweren Laster, der von links kam, und fuhr langsamer. Doch als sie auf die Bremse trat, um den Laster vorbeifahren zu lassen, bemerkte sie, wie glatt es war. In der vorherigen Nacht war der Eismeerwind über Nordkanada geweht und hatte alle Straßen in Glatteis verwandelt. Das Auto fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit weiter, trotz blockierter Reifen, genau auf die Kreuzung zu. Und rutschte unter den Lastwagen.
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