Elizabeth George
Im Anfang war der Mord
Elizabeth George,»die herausragende Vertreterin des modernen englischen Kriminalromans«(Chicago Tribune), hat in diesem Buch eine einmalige Auswahl von Kriminalgeschichten großer Autorinnen zusammengestellt. Das Ergebnis: eine hochkarätige Sammlung aus dem Besten, das die Geschichte der Spannungsliteratur zu bieten hat! Und Elizabeth George selbst bereichert den Band um eine hinreißend kluge und pointierte Einführung:
«Die Kriminalliteratur ist ein weites Feld, so breit und vielfältig wie das Verbrechen an sich. Weil es keine absolut strikten Regeln gibt und weil die wenigen tatsächlich vorhandenen Regeln dazu da sind, gebrochen zu werden, kann sich die Autorin jeden erdenklichen Schauplatz aussuchen, um ihn dann mit den ausgefallensten Spürnasen zu bevölkern.
Wenn dies der Grundsatz der Kriminalliteratur ist, sollte die Frage eigentlich nicht lauten, wieso so viele Frauen Kriminalgeschichten schreiben, sondern wieso eigentlich nicht alle Kriminalgeschichten schreiben … Dieser Band versucht nicht, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Stattdessen stellt er Ihnen zu Ihrer Unterhaltung ein ganzes Jahrhundert an Krimigeschichten und spannenden Erzählungen von Frauen vor.
Ihnen wird auffallen, dass in dieser Sammlung einesteils Namen vertreten sind, die mit der Kriminalliteratur eng verbunden sind — Dorothy L. Sayers, Minette Walters, Sara Paretsky und andere –, aber auch Namen auftauchen, die man normalerweise nicht mit Kriminalliteratur in Verbindung bringt, etwa Nadine Gordimer und Joyce Carol Oates. Ich habe versucht, eine möglichst breite Auswahl an Autorrinnen zusammenzustellen, weil sich darin meine grundlegende Überzeugung widerspiegelt: Kriminalliteratur muss nicht als Genreliteratur betrachtet werden!«
Akribische Recherche, präziser Spannungsaufbau und höchste psychologische Raffinesse zeichnen die Bücher der amerikanischen Bestsellerautorin Elizabeth George aus. Die Schriftstellerin und Herausgeberin lebt in Huntington Beach, Kalifornien. Alle ihre Bücher erscheinen in Deutschland exklusiv im Blanvalet Verlag, zuletzt eine Sammlung ihrer besten Kriminalerzählungen:
«Vergiss nie, dass ich dich liebe«.
Mittlerweile wurden einige ihrer Bestseller von der BBC verfilmt und auch im deutschen Fernsehen mit größtem Erfolg ausgestrahlt.
Einführung
von ELIZABETH GEORGE
Ob es sich nun um eine Detektivgeschichte handelt, einen Thriller, eine psychologische Studie von Charakteren, die sich mit einem zerstörerischen Ereignis konfrontiert sehen, ob um einen Gerichtskrimi, die öffentliche Aufdeckung eines Verbrechens, einen Polizeikrimi oder den wahrheitsgetreuen Bericht über eine tatsächliche Straftat, die Frage bleibt immer die gleiche: Wieso Verbrechen? Ob es sich bei den Beteiligten um FBI-Agenten handelt, um Polizisten, Gerichtsmediziner, Journalisten, Militärangehörige, den Mann oder die Frau von der Straße, Privatdetektive oder die kleine alte Dame von nebenan, die Frage bleibt die gleiche: Wieso Verbrechen? Es mag um Mord gehen (Einzeltaten, Serien- oder Massenmord), um Körperverletzung, Raub, tätlichen Angriff, Entführung, Einbruch, Wucher oder Erpressung — wir wollen es wissen: Wieso Verbrechen? Wieso übt das Verbrechen eine derartige Faszination aus, und — vor allem — wieso übt es diese Faszination auf Schriftstellerinnen aus?
Ich glaube, auf diese Fragen gibt es mehrere Antworten.
Das Schreiben von Kriminalliteratur ist praktisch ebenso alt wie das Schreiben an sich und gehört deshalb sehr wohl zu unserer literarischen Tradition. Die frühesten Kriminalgeschichten kennen wir aus der Bibel: Kain tötet Abel in rasender Eifersucht; in einem Akt eifersüchtiger Verschwörung verkaufen seine Brüder Josef nach Ägypten in die Sklaverei und täuschen ihrem gramgebeugten Vater seinen Tod vor; in lüsterner Eifersucht sendet David Batsebas Gatten an die vorderste Kampflinie, damit er selbst die liebreizende Frau für sich hat; in unerwiderter Begierde legen zwei geachtete Älteste falsches Zeugnis gegen die tugendsame Susanna ab, womit sie sie zum Tod wegen Ehebruchs verdammt hätten, wenn nicht jemand vorgetreten wäre und die Geschichte der beiden widerlegt hätte; Väter wohnen im verbrecherischen Akt des Inzests ihren Töchtern bei; Brüder töten ihre Brüder, kämpfen gegen sie, verleugnen und misshandeln sie; Frauen verlangen, den Kopf von Männern auf einer Schüssel präsentiert zu bekommen; Judith enthauptet den Holofernes; Judas verrät Jesus von Nazareth; König Herodes lässt die neugeborenen Knäblein der Hebräer erschlagen … Schauerlich geht es zu im Alten und im Neuen Testament, und aus dieser Quelle trinken wir von frühester Kindheit an.
Beim Verbrechen findet sich der Mensch in einer Grenzsituation wieder, in extremis, ja mehr noch — beim Verbrechen befindet sich der Mensch außerhalb der Norm.
Auf jeden Kain kommen eine Milliarde Brüder, die durch die Jahrhunderte hindurch zusammengelebt haben. Auf jeden David kommen zehn Millionen Männer, die von einer Frau abließen, als sie erfuhren, dass sie zu einem anderen gehört. Aber gerade das macht Verbrechen ja so interessant. Es ist nicht das, was Leute normalerweise tun.
Gerne würde man glauben, dass Autos, wenn sich auf der Autobahn ein Unfall ereignet hat, aus erhöhter Vorsicht langsamer fahren: Jeder sieht die blinkenden Lichter vor sich, den Rauch, die Feuersignale, die Krankenwägen, die Feuerwehrautos, und tritt auf die Bremse, um nicht so zu enden wie die Unglücklichen, die da gerade aus dem Metallgewirr befreit werden. Aber das ist normalerweise nicht der Grund, weshalb die Leute das Tempo drosseln. Sie fahren langsamer, um zu gaffen, ihre Neugier ist angestachelt. Warum? Weil ein Unfall etwas Anormales ist, und Anomalien interessieren uns. Sie interessieren uns seit Anbeginn der Zeit und werden es bis zu deren Ende tun.
Brutale Mordfälle schaffen es auf die Titelseite.
Entführungen, Fälle von rätselhaftem Verschwinden, Krawalle, tödliche Autounfälle, Flugzeugabstürze, terroristische Bombenattentate, bewaffnete Raubüberfälle, Heckenschützen, die auf Ahnungslose schießen … das alles drängt sich in unseren Alltag, führt uns die Brüchigkeit unserer Existenz vor Augen und macht uns gleichzeitig Appetit darauf, mehr zu erfahren. Wir kommen als Nation abrupt zum Stillstand, um im Fall von O.J. Simpson dem Urteil zu lauschen, denn bei dem, was sich auf dem Bundy Drive zugetragen hat, geht es um niedrige Triebe, und die niedrigen Triebe jenes Doppelmörders erwecken die niedrigen Triebe in uns selbst. Vergossenes Blut schreit nach noch mehr Blutvergießen, um die Tat zu sühnen. Wir suchen für jedes Verbrechen nach der passenden Strafe. Verbrechen ist so alt wie die Menschheit. Die Sensationslust auch. Und die Rachsucht.
Kriminalliteratur verschafft uns eine Art Genugtuung, die uns im wirklichen Leben oft versagt bleibt. Im wirklichen Leben werden wir nie Gewissheit haben, wer Nicole und Ron nun tatsächlich umgebracht hat; wir können bloß vermuten, dass es auf der grassbewachsenen Hügelkuppe einen zweiten Schützen gab; wir werden über Dr. Shepards Frau und Jeffrey MacDonalds Fähigkeit zur Wahrheit oder Selbsttäuschung im Unklaren gelassen. Der Green River Killer verschwindet in dem Urschleim, aus dem er aufgetaucht war, zu ihm gesellt sich der Zodiac Killer, und uns bleibt nur die Frage: Wer waren diese Leute, und wieso haben sie gemordet? In der Kriminalliteratur jedoch werden die Mörder mit der Gerechtigkeit konfrontiert. Es kann reale Gerechtigkeit sein, poetische Gerechtigkeit oder psychologische Gerechtigkeit. Aber sie werden damit konfrontiert. Sie werden demaskiert, und die Normalität ist wiederhergestellt. Darin liegt eine immense Genugtuung für den Leser, ganz sicher mehr Genugtuung als jene, die aus der Ermittlung und Bestrafung eines tatsächlichen Verbrechens erwächst.
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