Sie gehörten zu einem anderen Leben.
Dem Leben von einem anderen Menschen.
Er dachte selten daran. Aber jetzt vor dem Spiegel, als er sein eigenes Altern betrachtete, glitten seine Gedanken zu seiner Tochter, die inzwischen fünfundzwanzig sein musste. Vielleicht hatte sie eigene Kinder. Vielleicht war er Großvater, wurde ihm klar. Er lachte auf und dachte, dass er das herausfinden sollte. Vielleicht sollte er ein Testament machen und ihre Zukunft sichern? Sentimentalität war ein Fremdwort für ihn und das ungewohnte Gefühl ließ ihn zusammenzucken. Zuerst müsste ich etwas zu vererben haben, dachte er zynisch.
Er hatte nie für die Zukunft vorgeplant, sondern immer im Jetzt gelebt. Das Schicksal hatte ihn von Ort zu Ort und zu verschiedenen Geschehnissen geführt. Aber in den letzten Jahren hatte er immer öfter darüber nachgedacht, sich zurückzuziehen.
Die Balearen im Mittelmeer schienen ihm perfekt dafür. Auf diesen Touristeninseln gab es niemanden, der Fragen stellte. Alles war voller verschiedener Nationalitäten und alles war vollkommen anonym. Wenn man dann auch noch südländisch aussah, verschmolz man noch leichter mit der Menge.
Er hatte nicht vorgehabt, sich für immer in der Wohnung zur Ruhe zu setzen, die er auf Ibiza gekauft hatte, aber das mediterrane Klima gefiel ihm. Hier konnte er das ganze Jahr über Golf spielen. Sein Interesse am Golfsport wuchs beständig und er verbrachte immer mehr Zeit auf dem Golfplatz. Dort fand sein Sozialleben auf der Insel statt. Er hatte einige Leute im Golfklub kennengelernt, mit denen er gut klar kam. Sie kannten ihn als den Engländer Ray Lambert, ehemaliger Kolonialwarenhändler, der sich mit einer angenehmen Rente und vielleicht etwas geerbtem Geld ans Mittelmeer zurückgezogen hatte. Sie wussten, dass er ab und zu auf Reisen war, vielleicht in beratender Funktion, sie fragten nicht nach und es interessierte sie auch nicht. Bei den gemeinsamen Mittagessen ging es nur um Golf und lokale Gerüchte. Das passte ihm ausgezeichnet.
Ab und zu hatte er Touristinnen in den Bars in der Stadt getroffen. Mit einigen war er ins Bett gegangen, aber nur für eine Nacht. Aber er achtete darauf, sich nicht mit Ortsansässigen sexuell einzulassen.
Ray sah auf die Uhr und zog sich schnell an. Als er die Wohnungstür abschloss, sah er sich vorsichtig um und steckte dann routinemäßig ein Streichholz in die obere Ecke zwischen Tür und Türrahmen. Wenn jemand hineingehen würde, während er weg war, würde er es merken.
Er ging die vier Treppen hinunter und traf unten auf Señora Ramirez, die ältere Dame, die seine Wohnung putzte. Sie verbeugte sich tief und fragte, ob sie nicht mal wieder sauber machen müsste. Das fragte sie immer, auch wenn sie am vorherigen Tag gerade da gewesen war. Er schüttelte den Kopf und klopfte ihr freundlich auf die Schulter. Sie verbeugte sich erneut und Ray trat auf die Straße.
Es war erst acht Uhr morgens, aber die Sonne stand bereits hoch am Himmel und D’alt Vila badete in ihrem Licht. Er blieb vor der Tür stehen und zündete sich eine Marlboro Lights an, während er über den Hafen blickte, in dem Tausende kleine Boote in engen, langen Reihen aneinander lagen. Er nahm einen tiefen Zug. Es fiel ihm schwer, sich an die neue Zigarettenmarke zu gewöhnen, aber er hielt durch und versuchte systematisch, ein paar Zigaretten weniger zu rauchen. Es glückte ihm bisher nicht besonders gut und er war irritiert über seinen schwachen Willen. Es würde anders sein, wenn er endlich einen neuen Auftrag bekäme. Motivation, dachte er.
Ray parkte seinen Fiat in einer Seitenstraße.
Ehe er ausstieg, drehte er den Rückspiegel zu sich und klebte sich sorgfältig einen Schnurrbart auf die Oberlippe. Mit einer Spange im Mund veränderte er die Form seiner Wangen und bekam so das Aussehen, das mit den Papieren von Roberto Calderas übereinstimmte. Den Namen verwendete er für seine postlagernde Adresse. Alle vierzehn Tage ging er zum Hauptpostamt in der Ciutat de Eivissa und sah nach, ob er Post bekommen hatte.
Der Umschlag war weiß. Ray nahm ihn entgegen. Hätte er eine andere Farbe gehabt, hätte er es nicht getan. Er hätte gesagt, dass der nicht für ihn war, dass es sich um ein Missverständnis handelte und wäre sofort wieder gegangen. Er hatte ganz genau geplant, welchen Weg er gehen würde, falls das passierte. Er hatte alles einkalkuliert und wusste, wie er eventuelle Verfolger abschütteln könnte. Aber dieser Umschlag war weiß und alles war in Ordnung.
Der Brief war von Schiller, dem Uhrmacher in Zürich, Rays Unterhändler. Er war von jemandem kontaktiert worden. Der Umschlag enthielt eine Telefonnummer und ein Datum, sonst nichts.
Die Telefonnummer beunruhigte ihn. Sie war spanisch und gehörte jemandem auf Mallorca. Wenn er dort einen Auftrag ausführen sollte, würde er dankend ablehnen. Es war viel zu nah an Ibiza, um sich sicher anzufühlen. Er hatte beschlossen, niemals einen Auftrag auf Ibiza oder überhaupt auf den Balearen anzunehmen. Das Risiko, dass einen jemand erkannte, war zu groß.
Aber vielleicht wohnte nur der Auftraggeber dort? Oder war zufällig hier? Auf den Inseln gab es reichlich Leute aus ganz Europa, die dort Häuser und Wohnungen hatten, genau wie er selbst.
Es klingelte fünfmal, ehe jemand antwortete.
„Ekberg.“
„Sie haben mich via Zürich gesucht“, sagte Ray auf Englisch.
Einen Moment lang war es still im Hörer.
„Clockwork tide?“, fragte Tomas Ekberg.
„Ja, wir haben wohl einen gemeinsamen Freund, der Tiefseetaucher ist.“
„Ich muss Ihnen persönlich etwas überbringen“, sagte Tomas Ekberg gepresst.
Es sollten genau 103 Treppenstufen sein. Ray zählte sie genau, während er langsam die lange steinerne Treppe, die sich vom Platz nach oben schlängelte, hochstieg.
Das kleine Dorf klebte an den Talseiten und über ihm kletterten die Oliventerrassen hoch in die Dunkelheit. Die kreuzenden Straßen bestanden aus Treppenstufen. Alle Transporte mussten zu Fuß oder mit Eseln fortgeführt werden. Einen Esel hörte er in der Ferne schreien, als er stehen blieb und sich umsah. Es war sehr still und er bekam fast das Gefühl, dass das Dorf verlassen war.
Die alte, schummrige Straßenbeleuchtung warf nur einen schwachen, gelben Schein über die Hauswände. In den Seitengassen war es dunkel. Die Fensterläden der Häuser waren geschlossen, aber hinter ihnen konnte Ray leise die Fernseher hören. Vor einem Haus tief in einer Seitenstraße konnte er eine ältere Frau in der Dunkelheit erkennen. Sie saß mit einer Schüssel auf den Knien auf einem Hocker und putzte Gemüse.
Ray ging weiter die durchgetretenen, breiten Stufen hoch. Die hundertdritte Stufe war ein Absatz. Er blieb vor einem schmalen, dreistöckigen Haus stehen. Die Fensterläden neben dem Eingang waren geschlossen und der Rest vom Haus dunkel. Ein kleines Keramikschild schräg über der Tür erklärte in Blau und Weiß, dass das Haus „Casa de Pallaras“ hieß.
Er sah sich um. Eine dünne graue Katze saß auf der Balustrade und säuberte sorgfältig ihre Genitalien. Sie war das einzige Lebewesen in der Nähe. Er hob die Hand und klopfte vorsichtig an die große, braune Holztür. Sofort drehte drinnen jemand einen Schlüssel um und öffnete die Tür einen Spaltbreit.
Durch den Spalt konnte Ray eine ältere Frau erkennen.
„Gehen Sie zum Platz zurück“, sagte die Frau schnell und schloss die Tür wieder.
Er hörte, wie der Schlüssel erneut im Schloss gedreht wurde.
Es bereitete ihm Unbehagen, hier zu sein. Es ging gegen seine Prinzipien, dass jemand anderes die Umstände des Kontakts bestimmte. Er überlegte, es einfach sein zu lassen. Der einzige Grund, überhaupt herzukommen, war seine finanzielle Situation. Sein letzter Auftrag war fast ein Jahr her und sein Geld war einfach alle.
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