Der Elch bewegte sich grazil zum großen Apfelbaum, der etwa zehn Meter von Roger entfernt stand. Es knirschte unter den Hufen. Roger nahm an, dass der Elch Rinde essen oder gefrorenes Fallobst aus dem Schnee holen wollte.
Roger spürte ein Kratzen im Hals und musste sich räuspern. Er schluckte und kämpfte gegen den Hustenreflex an. Hielt die Luft an. Der Elch würde ihn sowieso jede Sekunde entdecken, aber er wollte das Erlebnis so lange wie möglich in die Länge ziehen.
Weit weg auf der anderen Seite des Sees hörte man ein Motorfahrzeug. Der Elch richtete sich auf und drehte Roger den Kopf zu. Sie starrten einander an. Die Augen des Tieres waren groß und braun. Der Bulle witterte in seine Richtung. Er saß wie erstarrt da und wagte nicht einmal zu blinzeln. Doch dann musste er doch Luft holen und im selben Moment kam der Husten. Der Elch war innerhalb von Sekunden weg.
Roger hustete und sah dem Tier keuchend nach. Er fluchte leise vor sich hin und spuckte in den Schnee. Das war jedenfalls etwas, wovon er zu Hause erzählen würde. Schade nur, dass er die Kamera nicht dabeigehabt hatte. Wenn er schnell gewesen wäre, hätte er vielleicht ein Foto vom Elchhinterteil machen können, ehe es zwischen den Bäumen verschwand. Jetzt würde ihm niemand glauben. Ja, klar, würden sie grinsen. Jagdgeschichten.
Roger legte das Gewehr weg und holte die Thermoskanne hervor. Er füllte den Becher mit dampfendem Kaffee und kramte das Butterbrotpäckchen aus dem Rucksack. Mettwurst und Käse, stellte er fest, als er die Plastikfolie abgewickelt hatte und sah, was Gun ihm mitgegeben hatte. Es sollte kaltes Schweinefleisch auf dem Brot liegen, dachte er, das passte am besten zur Jagd an einem kalten Wintertag. Er erinnerte sich an Skiausflüge, die er mit seinem Vater und seinem Bruder unternommen hatte. Die Mutter hatte die Thermoskannen mit heißer Schokolade gefüllt und dicke Brotscheiben mit Fleisch belegt. Essen für richtige Kerle.
Über dem See hatte der Himmel einen grünlichen Ton bekommen. Es war nach eins.
Er saß schon seit anderthalb Stunden auf seiner Unterlage und ihm wurde langsam kalt. Einmal hatte er an dieser Stelle gesessen und das Glück gehabt, einen Rehbock zu schießen. Er war in der Dämmerung durch den Gemüsegarten getippelt und hatte das Grundstück unterhalb der Hütte durchquert. Er hatte das Gewehr parat gehabt und sie hatten ihre Gefriertruhe auffüllen können.
Aber jetzt war weder für Rehe noch für Elche Jagdzeit und er hatte keine große Hoffnung, einen Hasen zu schießen. Eigentlich war er deswegen auch gar nicht hergekommen. Er wollte allein sein und nachdenken. Stalltorp war dafür der beste Ort. Er entspannte sich immer, sobald er die kleine rote Kaserne am See erreichte. Sommers wie winters, mit Familie oder ohne. Es war ein Ort der Kontemplation. Er kaute sein Wurstbrot, trank den Kaffee und genoss die Stille und die Einsamkeit.
Er musste zu einer neuen Situation auf der Arbeit Stellung beziehen. Seit mehr als zehn Jahren arbeitete als Ermittler. Er war es unglaublich leid, jeden Abend im Auto vor den Mietkasernen zu sitzen und darauf zu warten, dass vielleicht ein Verdächtiger aus einer Tür kommen würde. Oder stundenlang einem mutmaßlichen Handlanger zu folgen, um herauszufinden, ob er Hasch verkaufte und wenn ja, wem. Er war es leid, lange, ausführliche Berichte über jedes unwichtige Detail zu schreiben, das er erlebt hatte. Roger hatte das starke Bedürfnis, etwas anderes zu tun. Außerdem brauchte er ein besseres Einkommen.
Mit zwei Kindern und einer Frau ohne Arbeit waren ihre Ersparnisse am Boden. Das Haus verschluckte jeden Öre – und nicht einmal das reichte: Vor einigen Monaten musste er Geld von seinen alten Eltern leihen, damit es weitergehen konnte. Das Gehalt als Polizist war nicht hoch und es gab keinerlei Möglichkeiten für Extraeinkünfte.
Die Wirtschaftspolizei hatte intern eine Stelle ausgeschrieben, auf die er sich beworben hatte. Es war eine Art Beförderung mit höherem Gehalt, und nach dem Bewerbungsgespräch begriff er, dass er die Stelle bekommen würde. Aber jetzt hatte er Zweifel.
Einige Tage zuvor hatte Roger der Beisetzung eines Kollegen auf dem Waldfriedhof in Enskede beigewohnt. Als sich die Begräbnisgäste vor der Kapelle von der trauernden Familie verabschiedeten, war plötzlich ein Mann an seiner Seite aufgetaucht.
„Das ist vielleicht nicht der beste Moment, aber da wir uns jetzt ohnehin sehen, habe ich mich gefragt, ob ich vielleicht kurz mit Ihnen reden könnte?“, hatte der Mann mit leiser Stimme zu Roger gesagt. Der Mann, der einen eleganten dunklen Mantel mit Lederabsätzen am Kragen trug, hatte sich nicht vorgestellt, aber Roger kam er vage bekannt vor. Es bestand kein Zweifel daran, dass er ein Polizeibefehlshaber war. Sein ganzes Äußeres strahlte das aus.
Sie waren abseits an den Gräbern entlanggegangen. Roger hatte sich gefragt, was der Mann wohl von ihm wollte. Als sie ein Gräberfeld weiter weg waren, hatte der Mann diskret eine Hand ausgestreckt:
„Bernhard Lange. Wir haben uns glaube ich schon mal getroffen. Schade um Arvidsson. Ein guter Polizist! Haben Sie zusammengearbeitet?“
„Ja.“
„Die Besten gehen immer zuerst“, hatte Bernhard feierlich angehoben, war dann aber sofort davon abgekommen und wieder verstummt, zu sehr fiel ihm selbst auf, dass er nur Klischees bemühte. Er kannte den Toten nicht einmal persönlich und er hatte auch nicht zu seinen Untergebenen gehört.
Er strich sich über die dünnen, nach hinten gekämmten Haare und räusperte sich bemüht.
„Ja … naja, wir haben uns über die konkreten Aufgaben bei Ihrem neuen Job unterhalten“, war er mit einem ganz anderen Ton fortgefahren. „Und wir haben ein paar interessante Ideen. Können wir uns nächste Woche treffen, zum Beispiel am Montag? Um zehn?“
„Ja … klar, aber da habe ich Dienst.“
„Ich weiß, aber darum habe ich mich gekümmert, Sie haben grünes Licht!“
Roger hatte sich gewundert, aber Bernhard hatte bei dem Gedanken daran breit gegrinst, ein unpassendes, fast herzliches Lächeln.
„Dann sehen wir uns am Montag in der Cafeteria.“
Er hatte Roger auf die Schulter geklopft und war dann mit energischen Schritten zum Auto gegangen, das auf dem Weg zur Kapelle mit laufendem Motor gewartet hatte. Er fuhr nicht selbst – ein Privatchauffeur öffnete ihm die Tür.
„Kennst du Bernhard?“ Ein älterer Kollege, der in Uniform zur Beerdigung gekommen war, sah neugierig dem Auto hinterher, als es zwischen den Gräbern verschwand.
„Nein, aber ich wechsle in die Wirtschaftsabteilung, weißt du? Eine neue Seite aufschlagen, eine Veränderung …“
„Aber Bernhard ist doch kein Wirtschaftler, der ist doch Geheimdienst, verdammt noch mal. Er ist bei der Sicherheitspolizei!“, hatte der Kollege beeindruckt gesagt. „Fängst du da an?“
Das war es, was Roger bedrückte.
Vielleicht gab es gar keinen Job bei der Wirtschaftsabteilung. Vielleicht versuchte die Sicherheit so nur, an Leute ranzukommen, die interessant waren. Er wusste schon lange, dass man sich dort nicht bewerben konnte, sondern angeworben wurde. Und er war sich überhaupt nicht sicher, dass er bei denen arbeiten wollte. Er sah sich selbst nicht als Geheimagent, oder was man da nun genau war. Durch die Heimlichtuerei um die Abteilung entstanden Mythen. Aber das Geld war verlockend. Er hatte sich schlussendlich dazu entschieden, der Sache eine Chance zu geben.
Er steckte sein Essen wieder ein und machte sich fertig, um die dreißig Kilometer nach Stockholm zurückzufahren. Hasen würde es heute keinen geben. Aber er hatte einen Elch gesehen.
Es würden mehrere Monate seit dem Abendessen in der Villa in Djursholm vergehen, ehe Lennart Waldenström die Sache wirklich anging.
Viele Nächte lag er wach und dachte darüber nach, wie er mit der Information umgehen sollte, die er von Mr Norris in New York bekommen hatte. Er konnte schlecht selbst zum Uhrmacher in der Bahnhofstrasse 14 in Zürich tapsen, das war ihm klar. Norris hatte das deutlich betont: Sehen Sie zu, dass zwischen dem Kontaktmann und Ihnen so viel Abstand wie möglich liegt, am besten über mehrere Ecken.
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