Nach zwei Stunden stand der Doktor bereits mit Terezie auf dem Gang vor der einschlägigen Tür. Sie hielten ausgefüllte Fragebogen und Röntgenaufnahmen von sich und ihren Kindern in der Hand, die inzwischen im Nachtlager Karten spielten. Ohne sich zu verständigen, waren die Eltern froh, daß das Gitter unten zu war. Sie kannten Magduš und waren sich gewiß, daß das Ärgste noch vor ihnen lag.
«Geht es dir schon besser?» entsann sich der Ehemann.
«Ja», behauptete sie, obwohl sie sich noch nicht allzugut fühlte.
«Ich dachte, ich könnte mit Miro noch vor euch zum Abendbrot gehen. Inzwischen kannst du mit Magduš von Frau zu Frau reden...»
Es kam ihm schwer über die Zunge, für ihn war die Tochter ein Fröschlein, das eher ein paar hintendrauf verdient hätte, doch unter den gegebenen Umständen konnte er nicht anders.
»Ich versuche es... doch ich fürchte, mit Worten ist da nicht viel zu machen.»
«Mit was denn dann?» er war wieder gereizt.
«Zeit. Gib ihr Zeit, sei lieb zu ihr, das ist die beste Medizin.»
Im Gang saßen einige Leute auf der Bank oder standen herum, meist scheue Asiaten, während auf dem Fensterbrett gegenüber ihrer Tür ein älterer grober Typ hockte, geradezu ein Musterbeispiel von Balkanese, mit hervorstehenden Backenknochen, niedriger Stirn und schnabelartiger Nase.
«Ich setze mich zu ihm», sagte Terezie, als sie keinen anderen freien Platz sah, «ich bin noch immer ein bißchen schlapp.»
«Aber nicht dicht bei ihm», warnte sie Doktor Čierniak, dem anderen lächelte er jedoch zu, um seine Gefühle zu verbergen.
«Flöhe habe ich keine», ließ sich der Mann tschechisch hören, «und alle Kinderkrankheiten hab’ ich heil überstanden. Gnädigste kann sich ruhig neben mir platzen.»
Den Eheleuten flimmerte es vor den Augen.
«Entschuldigen Sie, bitte...» stotterte die unschuldige Terezie.
«Ich wollte Sie nicht verletzen...» bemühte der Doktor jetzt sogar sein Tschechisch.
«Vojtěch Rous!» brach der falsche Mann vom Balkan in Gelächter aus.
«Doktor Čierniak, und das hier ist meine Gattin.»
«Nun, ich habe mich nicht vorgestellt, ich habe nur Schwejk zitiert, den einzigen Klassiker, den ich kenne, die Geschichte aus Tirol, oder dort irgendwo, als er im Zug seine Jause auspackt und einem Mitreisenden sagt, der gierig in seinen Mund glotzt, fressen möchtest du, nicht wahr? worauf der andere auch in Tschechisch erwidert, das möchte ich gern, wenn du mir was abgibst, es war irgendein Vojtěch Rous! Ich bin irgendein Josef Strniště, beste Vorkriegsware, letztlich wohnhaft in Budweis.»
Er schüttelte ihnen herzlich die Hände, ohne seine Sitzlage aufzugeben, während Terezie sogar aufgestanden war, um die vorherige Unanständigkeit mit aller Höflichkeit aus der Welt zu schaffen.
«Hier wimmelt es geradezu von Rous’», fügte er hinzu, «paßt nur auf!»
Doktor Čierniak begann aus Gewohnheit gleich zu flüstern.
«Meinen Sie, wir werden hier bespitzelt?»
«Von wem denn?»
«Von den Unseren.»
«Das ist ja wie in dem Witz», lachte er wieder laut, «von den zwei Moskauer Juden, die mit dem Ohr an der Stimme Amerikas lauschen, die Israelis hätten von neuem Brüderchen Araber aus dem Sinai herausgeprügelt, und sie flüstern sich zu: Da werden die Unseren stinksauer sein, daß die Unseren gewonnen haben!»
Weil die Eheleute verständnislos dreinschauten, erklärte er es für Unbedarfte.
«Na also, falls uns hier jemand von drüben bespitzelt, so ist er für uns nicht mehr der Unsere, sondern der Ihre, nicht wahr?»
«Gewiß», bejahte der verwirrte Doktor beflissen, «ich dachte, ob die Hiesigen vielleicht nicht etwa auch... damit sie erfahren, warum wir geflüchtet sind...»
«Die werden Sie doch jetzt darüber ausfragen.»
«Wollen die uns glauben? Hier denkt sich doch jeder wer weiß was aus, um als Politischer anerkannt zu werden!»
«Was heißt hier ausdenken? Ich habe eintausendeinhundertvierundfünfzig Striche an der Wand, das muß ihnen reichen.»
«An der Wand...?»
«An der Knastwand. Für jeden Tag einen. Und Sie?»
«Wir...?» fragte er erschrocken, war aber gleich danach froh, so unerwartet gefragt zu werden, er konnte die Antwort ausprobieren, an der er mit seiner Frau den ganzen Frühling über gefeilt hatte, damit nicht gleich Lügen herauslugten, die hier, so glaubten sie, kurze Beine hätten, «uns haben dazu prinzipielle Gründe ethischer Natur bewogen...»
«Das ist was?» fragte der Tscheche verwundert, doch er sollte es nicht erfahren, denn zugleich kullerte aus der Tür, vor der er Wache hielt, das vollbusige Mädchen heraus, mit Haaren, die aus dem Kopf wie Disteln herausragten, «na», der Mann sprang vom Fenster herab, «wie ist es gelaufen?»
«Wie mit Butter geschmiert», schrie sie, «die wollten nicht einmal sehen, wie ich ihm meinen Hintern zeigte.»
«Prima, dann muß ich vielleicht auch nicht vorführen, wie ich den Kapitalismus zu Klump hauen wollte.»
Auf der Türschwelle erschien ein seltsamer Mensch. Sein Gesicht, ja seinen ganzen Schädel, auf dem sich nur ein paar lange Blondhaare abhoben von der sonnengebräunten Haut, machten vor allem die Augenhöhlen aus, mit versunkenen dunklen Pupillen. Selbst im offenstehenden Hemd weckte er Respekt.
«Eheleute Bohdan und Terezie Čierniak!», rief er sie tschechisch auf.
Es konnte nur der hiesige Chef sein, und ihr Mut sank.
Rückschauend hatten sie von ihrem «Interview» einen gemischten Eindruck. Sie sagten, was sie wollten und sollten, doch sie verspürten plötzlich, daß die Gründe, mit denen sie ihre Flucht rechtfertigten, fragwürdig erschienen angesichts ihrer langjährigen Loyalität zum Regime, vor dem sie jetzt politisches Asyl suchten. Die durchbohrenden Augen, eher die eines Hellsehers, beobachteten sie dabei unbewegt, keiner von den beiden konnte in ihnen lesen, was sich der hohe Funktionär über sie dachte. Die Antworten übersetzte er einer älteren Frau, die sie auf der Schreibmaschine protokollierte. Am Nebentisch taxierte sie offensichtlich ein weiterer Beamter, die Zeitungslektüre täuschte er sicher nur vor; warum sollte er sonst dabei sein?
Am meisten störte sie das weißhaarige Faktotum, das ihnen am Morgen die Koffer trug. Er überbrachte dem Chef die Nachricht, daß zu Mittag irgendein dringender Fall auf ihn wartete, blieb dann aber da und schälte seelenruhig einen Apfel. Die endlose Schalenschlange, die in einer Spirale zum Fußboden heruntersank, hat Doktor Čierniak durcheinandergebracht. Selbst wenn er die erwarteten Fragen auf beste Art und Weise beantwortete, hörte er sich den Lebenslauf eines Bürgers schildern, der sich niemals und gegen niemanden aufgelehnt hatte und überdies auch nichts ausließ, was ihm dort jemals von Nutzen sein konnte. Einen Augenblick schwand ihm die Hoffnung auf Asyl gänzlich, als die Frage nach seiner Mitgliedschaft in der Partei fiel, obwohl er vor allem diese Antwort zu Hause eingepaukt hatte.
«Meine Ehefrau trat nicht in die Partei ein und mußte deshalb Hausfrau bleiben, man ließ sie nicht auf die Hochschule. Und ich, bitteschön, ich bin in eine andere kommunistische Partei eingetreten, als in die, die da jetzt regiert.»
«Und nämlich?»
«In die von Dubček. Alexander Dubček, soweit Sie sich noch erinnern können, war...»
«Ich weiß. Wann war es?»
«Wann ich also...? Na, das war, bitteschön, fünfundsechzig.»
«Dubček wurde erst achtundsechzig Generalsekretär.»
«Gesamtstaatlich gesehen», triumphierte er, «in der Slowakei war er bereits vorher Erster Sekretär, und da habe ich seine Reformbemühungen eben dadurch unterstützt, daß ich eintrat.»
«Und blieben auch danach, als er gefeuert wurde.»
Auch diese Vorhaltung hatte er erwartet, und ermuntert, wie gut er bereits gepunktet hatte, schlug er sich tapfer weiter.
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