Vorsichtig ließ er also den Wagen anfahren, dessen Insassen von seinen Stößen erwachten, sich die Augen rieben, gähnten und sich fragten, wo man sich eigentlich befand. Er formte aus den Händen einen Trichter und blies eine militärisch schrille Melodie.
«Bonjour, guten Morgen in der Freiheit!» meldete er wie ein Radiosprecher, «es ist Mittwoch, der zweiundzwanzigste Juni neunzehnhundertdreiundachtzig. Wir erwarten warmes, sonniges Wetter und nähern uns unserem vorübergehenden Heim. Es wurde mir von Leuten, die sich auskennen, nahegelegt, gleich vor den Toren ‹Asyl›! zu schreien und schußsichere Gründe anzugeben... Träume ich? Habt ihr so was je gesehen?»
Sie waren schon wach und staunten wie er verdutzt die Frauen und Mädchen an, die im Selbstangebot vor ihnen paradierten, hinter den dahinlaufenden Bäumen der Allee postiert.
«Nutten am Morgen? Noch nie gesehen. Und was wollen diese Schönlinge?»
Am Rand der Fahrbahn führten ihnen Männer jeden Alters ihre Muskeln vor.
«Reihen die sich zum Aufmarsch ein?» fragte aus Bobina die Erfahrung.
Dann stießen sie alle aneinander, so heftig mußte er bremsen.
«Wohl verrückt!» rief er aus dem Fenster einem jungen Mann von orientalischer Visage zu, der ihm ganz plötzlich in die Bahn trat.
Mit einem Schlag waren sie von vielen anderen umstellt.
«Ich machen alles», riefen die Männer durcheinander, «Haus, Hof, Feld, Weinberg, die Stunde finfzik Schilling.»
Und als er keine Antwort gab, riefen sie im Chor.
«Finfundvirzik!»
«Sie suchen Arbeit!» begriff er, «Arbeit?»
«Arbeit, Arbeit, virzik und Essn», unterboten sie sich gegenseitig.
«Na prima, boys, ich nehme euch, aber hier warten, bis ich Firma habe. Ich erst heute Kurve gekratzt, compris?»
Und er trat das Gaspedal im festen Vertrauen, daß man ihm den Weg freimacht, worin er zum Glück nicht irrte. Gleich darauf erblickten sie wieder die Pförtnerloge, in der ein neuer junger Kerl saß. Josef Strniště stützte die Hand auf die Hupe und donnerte in das Jaulen durchs Fenster:
«Asyyl!»
2. Der Zahnarzt und seine Familie
Wann immer sie in den letzten Monaten Zweifel befielen, ob sie richtig handelten, oder sie verspürten Angst, vorzeitig entlarvt zu werden, malten sich die Eheleute Čierniak den ersten Abend in der Freiheit fröhlich aus. Im farbigen Kunstdruckprospekt des Hotels am Neusiedlersee, das den Zahnarzt während jenes Symposiums so verzaubert hatte, wählten sie schon längst ihren Tisch auf dem Podium am Fenster aus, an dem sie es sich mit den vom reichen Büfett begeisterten Kindern gutgehen lassen wollten, wonach sie dann, wenn sie die beiden in die Heia geschickt hätten, zu zweit eine schöne Flasche Sekt leeren würden, koste es was wolle.
Später kam noch die Absicht dazu, sich in Rust zwei Zimmer zu leisten, um einander, bevor die Gemeinschaftsschlafräume des Flüchtlingslagers sie auf keusch schalten ließen, zu beweisen, daß ihre alte Liebe nicht einmal in der neuen Welt roste. Aus alldem wurde nun nichts.
Im Hotel tagten diesmal Gerichtsmediziner. So waren sie froh, noch den letzten Parkplatz in der Garage zu bekommen, auf dem der Doktor vor allem bestanden hatte, und das letzte Doppelzimmer mit zwei Zusatzbetten. Vor den Kindern konnten sie sich ein Liebesspiel unmöglich erlauben; während des Badens schwebte ihnen ein Spaziergang in der lauen Nacht ins Grüne vor, wie damals zum erstenmal in Bratislava, als sie aus Unerfahrenheit unverzüglich Magduš gezeugt hatten, doch gerade deren Auftritt machte das Fest zunichte.
Sie hat sie auch dadurch schockiert, daß sie wider Erwarten den Streit nicht fortsetzte, sondern noch am Tisch zu sprechen aufhörte. Im Zimmer, wohin die Mutter sie laut Befehl brachte, schüttelte sie den Sommeraufzug ab und ging ins Bad, die Zähne zu putzen. Als Terezie nach längerer Zeit an die Tür klopfte und sich kein Laut vernehmen ließ, öffnete sie beunruhigt, doch die Tochter hörte noch nicht auf, vor dem Spiegel ihr makelloses Gebiß, von der Mutter geerbt, weiter zu säubern.
«Keine Angst, Magduš», sie übertrug die eigene Furcht auf die Tochter, «ich sperre dich nicht ein, du bist doch vernünftig. Verzeih mir, wenn ich dir nichts verraten habe, und sei auf den Vati nicht böse, er hat von uns allen das meiste verloren!»
Magda bewegte weiter die Hand mit der Bürste hin und her wie eine mechanische Puppe in der Schießbude.
«Nicht einmal reden willst du mit mir! Warum denn?»
Die Tochter spuckte den Schaum aus, gurgelte und sagte erst dann herablassend.
«Der Mensch lernt das Sprechen, um mitteilen zu können, was er sich denkt. Falls ich das nicht darf, bin ich wahrscheinlich noch ein Embryo, so fragt mich erst, wenn ich achtzehn bin.»
Damit bohrte sie sich nackend unter die Decke des hinteren Zusatzbetts und drehte sich der Wand zu. Die Mutter wußte, daß nun nichts mehr mit ihr anzufangen war.
Sie kam nach unten, gerade als Miro vom Vater eine Ohrfeige fing. Noch bevor er laut losheulte, konnte sie ihn umarmen.
«Was ist passiert?» fragte sie still den Exekutor und den Bestraften und erfuhr, daß dieser trotz ausdrücklichen Verbots sich die Taschen mit Schokoladenriegeln vollgestopft hatte. Also führte sie ihn nach oben ab, reinigte seine verschmierte Jacke, während er sich wusch, und brachte ihn neben seiner Schwester zu Bett, die sie nicht anzureden wagte, obwohl Magduš todsicher noch nicht schlief.
Wieder ging sie nach unten und mußte erleben, was sie bereits ahnte, daß ihr Mann sich nämlich weder nach Sekt noch nach ihr sehnte. Er zitterte vor Zorn.
«Das ist dein Werk», beschuldigte er sie, «immer hast du ihnen eine Extrawurst gebraten, und auf mich kommt jetzt alles runter. Die eine habe ich ihrer unsterblichen Liebe entführt, den anderen schlage ich zusammen, weil das arme Kind Hunger hat. Immer ich bin der Bösewicht.»
«Bohdan... ich weiß, du hast für heute genug, was heißt für heute, für die ganzen Monate, aber wir konnten uns gemeinsam mit allen Wenn und Abers auseinandersetzen. Es war ausschließlich unsere Entscheidung, wir können uns bei niemand beklagen! Während die Kinder... Dank diesem Büfett ist Miro noch nicht bewußt geworden, daß er niemals mehr seine Kameraden aus der Straße, aus der Schule sehen wird, die Großeltern und Tanten...»
«Was erzählst du mir da!» er regte sich immer mehr auf, «wir fahren doch nicht auf den Mars, Amerika hat als einziges Land mit der Tschechoslowakei seit dem Ersten Weltkrieg Konsularbeziehungen, sobald wir uns dort ein Haus zugelegt haben, werden dir deine Verwandten aus der Heimat zum Hals heraushängen. Miro wird in einigen Wochen Englisch besser schwätzen als Slowakisch, er wird einen dicken Amerikaner abgeben, und an Bratislava wird er nur denken, wenn er mit einem Superschlitten auf Mädchenjagd fahren wird, und die Magduš, wenn sie Hollywood oder Disneyland nur gesehen hat, wird im Handumdrehen vergessen, daß es je einen Gabriel Babray gab.»
«Du hast ganz recht», versuchte sie es vorsichtig nochmals, «aber...»
«Und was kaufe ich mir dafür?» legte er wieder los.
Dienstbeflissen kam der Ober angerannt in der Meinung, er sei gerufen worden. Er erkundigte sich nach ihren Wünschen.
«Einen Rum», befahl der Zahnarzt tatsächlich.
«Welchen bitte, Jamaica oder Bacardi?»
«Mir egal.»
«Bohdan!» bat sie, als der Ober sich entfernte, «sei vernünftig, du weißt doch, daß du vom Klaren Sodbrennen kriegst...»
«Mir egal.»
«Komm, geh’n wir schlafen, sie überschläft es auch...»
«Die? Die kommt direkt nach dir! Mit dem Abizeugnis bringt sie gleich ein Kind daher!»
«Was sagst du da? Hast du vergessen, wie das damals mit uns war?»
«Nur, daß sie es im Charakter hat. Erinner’ dich an Karlsbad!»
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