Pavel Kohout
Wo der Hund begraben liegt
Roman
Aud dem Tschechischen
von Joachim Bruss
Saga
Gewidmet
Den ersten signataren der Charta 77
Herrn Walter Jaeggi,
Ehemaliger botschafter der Schweiz in Prag
In memoriam und
Frau Dr. Annemarie Reynolds
In der freundschaft mit den ersten
Habe ich diese geschichte erlebt
Die freundschaft des zweiten
Half mir, sie zu überleben
Die freundschaft der dritten
Machte es mir leichter, sie zu schreiben
P. K.
1984, Lago Maggiore
Der Hund liegt zwanzig Schritte südlich von der Villentür begraben. Die Villa sieht in dem geräumigen Garten, der sich auf einem schiefen Felsen dem Flußtal zuneigt, wie der schlichte Aufbau eines Schiffes mit Schlagseite aus. Ein junger, heimischer Architekt hat hier im Jahre 1928 mit leichtem Beton und Glas seine Bewunderung für die gerade berühmt gewordene Bauhaus-Schule gelungen ausgedrückt. Es war ein gutes Jahr auch für mich: Im wenig entfernten Prag bin ich zur Welt gekommen.
Im Drahtzaun an der Kante des Hanges verfault eine hölzerne Pforte. Ein steiler Pfad, dem Fluchtweg aus einer Burg ähnlich, führte hier vom Garten zu der Wiese am Fluß. Man mußte dort unten nur einen Feldweg überqueren und war bei der geräumigen Badekabine, wo man auch übernachten konnte, berauscht vom nahen Wehr.
Die Idylle ging unter, als die Flut der Wochenendhaus-Bauten einsetzte, die den Menschen nach dem Panzer-August 1968 bei der Flucht ins Innere halfen und obendrein den gesellschaftlichen Rang markierten. Der Mann, ein kleiner Staatsfunktionär, der sich am Hang unterhalb von uns das erste Häuschen baute, nutzte Anfang der Siebziger seine plötzliche politische Macht zum ersten Test unserer Ohnmacht: Er hat den Pfad einfach seinem Grundstück einverleibt. Seitdem mußten wir zum Fluß über den weit gebogenen Hohlweg wandern.
Über der nutzlosen Pforte wuchert der Weißdorn. Lange Jahre schnitt die endlose Hecke Herr Kulhánek, ein Bauer aus dem nahe gelegenen Dorf Xaverov, der genauso alt war wie das Jahrhundert. Er hat diesen Garten für den Erbauer der Villa aus der Wildnis erschaffen und über Jahrzehnte erhalten. Alle Inhaber haben ihn dankbar übernommen. Nach wie vor schmückt die Pforte ein kunstvoll aus Weißdorn geschnittener romanischer Bogen. In dieser schönen toten Ecke entstand der Friedhof unserer Tiere.
Sollte hier in Zukunft einmal ein Nichteingeweihter graben, wird er eine Überraschung erleben. Neben einem Skelett, in dem auch ein Student der Tiermedizin die Gebeine eines jungen Dackels erkennen würde, wird er auf eine Urne stoßen, wie sie in tschechischen Krematorien nur für menschliche Überreste benutzt wird. Sie sind grundsätzlich mit einer Nummer versehen und streng registriert.
Diese ist nicht numeriert. Doch in der Registratur des Bestattungsdienstes der Hauptstadt Prag muß eine Kopie des Originals existieren, das vor mir liegt. Unter der Nummer 010263 ist einem gewissen Dr. Zima, wohnhaft Zelenečská 37, Prag 9, am 23.8.78 ein «amtliches Einäscherungsgefäß» ausgehändigt worden. Irgend jemand, höchstwahrscheinlich er selbst, hat dafür vierzehn Kronen bezahlt.
Die richtige Frage lautet also nicht: Wo liegt der Hund begraben?, sondern: Wer ist zwanzig Schritte südlich der Hallentür des Sommerhauses Nr. 177 in Sázava an der Sázava, etwa fünfzig Kilometer südöstlich von Prag, im Jahre meiner Geburt in dem berühmten Bauhaus-Stil erbaut und im Besitz des Ehepaares Kohout, begraben worden?
Die Geschichte dieses Mordes – ja, es war Mord! – gehört zu den erschütterndsten, die mir das Leben geliefert hat. Auch damals, als ich mitwirken mußte, war mir wiederholt zumute, als müßte ich jeden Moment erwachen. Der Mechanismus dieser Geschichte entglitt immer mehr auch der Kontrolle jener, die sie mit Ladung und Zeitzünder versehen hatten. Als es zur Explosion kam, starb ein Unschuldiger.
Ich habe mit diesem Zeugnis sieben Jahre gewartet, bis mein Entsetzen und meine Wut, die Gefühle des Betroffenen, nachließen und sich der Berichterstatter, der Erzähler, an die Schreibmaschine setzen konnte. Ich will die Geschichte ohne Phantasie schildern, mich auf die genaue Dokumentation stützen, die ich damals von Stunde zu Stunde in Wort, Bild und Ton angefertigt habe.
Ich habe vorgesorgt, daß diese Dokumentation, wie auch meine gesamte Korrespondenz mit den heimischen Ämtern und Gerichten, die an sich schon ein erschütterndes Bild jener siebziger Jahre bieten, aus meiner Heimat herausgeschafft werden konnte – notfalls bis ans Ende der Welt. Jetzt bedecken die Papiere in der Villa am Ufer des Lago Maggiore, die mir zu diesem Zweck eine gute Freundin geliehen hat, den Teppich der riesigen Wohnhalle.
Weil der ausführliche Bericht über die Ereignisse der Monate Juli, August und September 1978, den ich in Fortsetzungen dem Staatspräsidenten sandte, wie üblich durch die Hände der Staatssicherheit gehen mußte, hätte jede unbelegte Behauptung Strafverfolgung nach einer ganzen Reihe gefügiger Paragraphen nach sich gezogen. Daß dies nie geschehen ist, bezeugt die Wahrheit der Geschichte.
Die meisten Akteure behalten ihre wahren Namen. Weil sich jedoch viele der Übeltäter hinter Decknamen versteckten, haben all diejenigen ein um so größeres Recht darauf, die noch gefährdet werden könnten. So wird durch die Feigheit der einen und durch meine Pflicht, die anderen zu schützen, aus den Memoiren ein Roman.
Hinter der niedrigen Steinmauer reckt sich an diesem schwülen Sommernachmittag wie ein riesiges, faules Tier der Lago Maggiore. Vom Handlungsort jener absurden Komitragödie trennen mich drei mächtige Hindernisse: Der San Bernardino, der Arlberg und der Computer, der dafür sorgt, daß mir nicht irgendwo irgend jemand irrtümlich das Einreisevisum in die Heimat gibt.
Wie töricht! Es genügt, die Augen, ohnehin geblendet vom Glanz der Wasseroberfläche und des Papiers, zu schließen und die Fingerkuppen auf die glühenden Tasten der alten Schreibmaschine zu legen, die mir mein Vater vor vierundvierzig Jahren geschenkt hat, als mich, einem umgeschulten Linkshänder, Krämpfe am leserlichen Schreiben hinderten – und die Tessiner Kulisse reißt auf.
Ich betrete die tschechische Bühne der Handlung und finde dort jedes Wort, jede Geste jener Jahre wieder.
Sázava, Dienstag, 11.7.78 – 10.00
Die Sekunden vor einem Unglück haften im Gedächtnis wie das letzte Bild eines gerissenen Films; bis heute sehe ich die Augen meiner kleinen Töchter, die sich auf dem Rücksitz des Wagens mit meinem Sohn so zanken, daß ich mich vom Lenkrad abwenden muß, zwanzig Jahre lang sehe ich die drei lebendigen Gesichter, im kindlichen Streit von der künftigen Leidenschaft gezeichnet, während ich mir den schrecklichen Schatten der Lokomotive, die meinen Weg auf dem unbeschrankten Bahnübergang plötzlich versperrt, das Krachen des zerbeulten Blechs, das Zischen des spritzenden Wassers und das Schreien aller drei wie durch ein Wunder unverletzten Kinder jetzt eher ausmalen muß, als daß ich mich daran wirklich
erinnern kann; das Unglück, von dem uns jetzt nur sechzig Schritte trennen – über den Sandweg von den Birken vor unserem Haus, unter denen wir gerade zu Ende gefrühstückt haben, bis zum Briefkasten am Tor –, wird zunächst nach einem schlechten Witz riechen, sogar ein Geist wie der unsere, von den zehn Jahren dieses verrotteten Regimes abgehärtet, wird lange zögern, bevor er seine ungeheuerliche Wirklichkeit zuläßt, und sich lieber krampfhaft an die letzten Sekunden davor halten; es ist
zehn Uhr vormittags, ein alltäglicher Dienstag und doch dringen die Töne eines Flügelhorns von der Stadt bis hierhin, die meisten Schaustellerwagen haben schon gestern das zertrampelte Gelände der Prokop-Kirmes verlassen, die am Sonntag zur Mitternacht ihre heilige Seele aufgelassen hat; sie ziehen jetzt den Sázavafluß auf- oder abwärts zu anderen Kirchenpatronen Mittelböhmens, nur die Schießbuden, Schaukeln und Karussels sind es, die sie einmal im Jahr für zwei kurze Tage aus ihrer politischen Verbannung befreien; einer hat sich verspätet, vielleicht betrunken, vielleicht verliebt in eines der Lehrmädchen aus dem Glaswerk oder aus dem Kaufhaus Zář – Die Glut –, und jetzt schickt er ihr den letzten Gruß; du
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