Das Regime hatte jetzt nicht mehr nur ein Häuflein unzuverlässiger Stützen, die sich am Zipfel des Uniformrocks des großen Bruders festhielten. Unter seiner Schutzherrschaft verwandelte sich das Land in eine große Verpflegungsanstalt, zu der – wie zum Schriftstellerklub – allein diejenigen zugelassen wurden, die bereut und sich gebessert hatten. Nur eifrige Reue konnte die gestrigen Verirrungen ungeschehen machen, denen hier in jenem verführerischen Frühling fast alle erlegen waren. Und sie alle beeilten sich, die eigenen Verfehlungen auf diejenigen abzuwälzen, die bisher töricht an dem Schwur der Solidarität festgehalten hatten.
So manche weiteren Repressionen hatten groteske Züge. So wurde ich auf die Militärverwaltung Prag 1 geladen. Zweck: Kontrolle des Wehrpasses. Ein gewisser Major Hanzal wollte meine Unterschrift, bevor er ihn mir zurückgab. Bieder scherzte er, doch gleichzeitig schwitzte er verdächtig an den Händen. Also schaute ich mir das Dokument vorher an. Anstelle eines Hauptmanns der Reserve war ich darin wieder nur einfacher Soldat.
Er lief vor mir in das Büro des Dienststellenkommandanten, Oberst Hruška, der schon aufstand und befahl:
«Habt acht!» Der Major nahm Grundstellung ein wie bei einer Parade, und sein Vorgesetzter stotterte einen Befehl des Verteidigungsministers herunter, wonach «der Dienstgrad demjenigen aberkannt werden kann, der im Widerspruch zu den moralischen und politischen Anforderungen handelt». Als er damit fertig war, schien es ihn geradezu zu jammern, daß er mir statt der fehlenden Schulterstücke nicht wenigstens den Kragen an meiner Jacke abreißen konnte.
Ich wollte die konkrete Anschuldigung wissen, und da verlor er die Beherrschung.
«Sie haben Stalin verraten!»
«Nein», sagte ich, «Stalin hat mich verraten.»
Da waren sie wieder, die zu allem Fähigen, Stalins altneues Aufgebot, seine Brut, aufgestellt zur nächsten Jagd. Ich legte den ungültigen Wehrpaß auf den Tisch und sagte, daß ich mit seiner Annahme in keinem Fall meine ungesetzliche und demütigende Degradierung anerkenne. Der Oberst schien einem Schlaganfall nahe und brüllte bis auf den Flur, er werde gegen mich eine Strafverfolgung einleiten lassen.
Das Wehrgesetz der Čssr verpflichtet jeden Bürger, seinen Wehrpaß zu Hause zu haben. Verlust wird streng bestraft. Mit der Rückgabe hatte der Gesetzgeber nicht gerechnet. Ich fand diese Lücke, als ich mir unverzüglich – wie von jetzt an immer wieder – in einer Art juristischer Selbstbedienung die betreffende Amtsliteratur besorgte. Ohne Nachweis, daß meine Wehrpaßangelegenheiten vorschriftsmäßig geregelt sind, konnte mir höchstens die Ausreise in das Ausland verweigert werden, doch diese Gefahr bestand für mich nicht, da mir der Reisepaß längst entzogen worden war.
Ich wartete nicht auf ihre Attacke, ich überfiel sie selbst. Meine Beschwerden regneten auf alle Instanzen herab, bis zum Minister und dem Präsidenten als Oberbefehlshaber. Sie titulierten mich als Soldat der Reserve, ich signierte als Reservehauptmann. Schließlich hörten sie auf zu schreiben. Auch die Zivilstaatsanwaltschaft gab auf. Die Pointe sollte erst in vier Jahren das Leben schreiben.
Auch die besten Freunde fragten mich verlegen, warum mir an diesem blöden Dienstrang so viel liege. Weil er meiner ist, sagte ich ihnen, einer meiner erdienten Bürgermale, und weil ich diese aufgeblähte Macht von Anfang an daran gewöhnen will, daß ich in dieser verlorenen Schlacht beabsichtige, zumindest meinen privaten Graben zu verteidigen und voll hinter jeder meiner Entscheidungen und meinem Wort zu stehen. Nach den trotzigen Mittagessen im Schriftstellerklub war dies mein zweiter wichtiger Schritt zu mir selbst in dieser sumpfigen Zeit.
Weihnachten nahte, und wir wollten wieder unter dem Weihnachtsbaum als Hauptgeschenk einen Hund finden. In Gedanken umrundeten Zet und ich den ganzen Hundeplaneten und gelangten abermals bei euch Dackeln an. Wie der Herr, so’s Gescherr, also auch der Köter. Uns lockte nach wie vor die eigensinnige Individualität und Treue, die Anspruch auf absolute Liebe erhebt. Irgendwer verwies uns an den Züchter Ingenieur Novák.
Zu der Zeit trugst du schon den stolzen Namen Edison Venor als Sohn der in der Zucht berühmten Pandora Venor, deren Großvater Dust 11. sogar dreimal Champion des Cacib war, dieses internationalen Hundeschönheitswettbewerbs, und väterlicherseits als Sohn des nicht weniger glorreichen Kasper von der Kettwigshöhe, des Nachkommen eines angesehenen Quartetts von Großeltern: Muck von der Dachsluft, Exe von der Hornchenbande, Batzel vom Falknerhaus und Daxi von der Forst-Brickwedde. Ein Hundeadel par excellence!
Der Glanz all dieser Titel fiel auch auf uns, als wir dich am 18. Dezember auf meinen alten, vom Vater ererbten Schreibtisch stellten. Sofort hast du auf die frische erste Seite meines Romans Die Henkerin gepinkelt, den ich dann neben dir dein ganzes Leben lang schreiben sollte. Als wir sie getrocknet hatten, kam der Photograph Štěpán, und wir stießen auf dich an. Nach der zweiten Flasche Sauvignon überkam uns die Lust, den Freunden in aller Welt zum neuen Jahr das in Böhmen traditionelle P. F. – pour féliciter – zu schicken, damit sie sehen konnten, wie wir den nationalen Polarwinter meisterten. Du paßtest glatt in den Trichter des uralten Grammophons, ein Geschenk des Moskauer Theaters «Sovremennik», als es seinen Autor noch lieben durfte.
Die Angewohnheit, jährlich eine photographische Nachricht über den Stand unseres gemeinsamen Lebens zu versenden, ist uns allen dreien geblieben. Daß sie zu den Stützpfeilern eines memoiromans werden sollten, wußten nicht einmal die Sterne.
Böhmen, Winter-Sommer 1972
Siebenmal schneller als der Mensch lebt angeblich der Hund, siebenmal intensiver war unsere Freude an dir. Noch führte uns dein zittriges Kriechen vom Tatort unweigerlich zu den Pfützen auf dem Teppich, noch durften wir dich schütteln und an der Nackenhaut anheben, von der du soviel Reserve hattest, daß zu zweimal hineingepaßt hättest, noch liebtest du Milch mit geschlagenem Eigelb, an der du ein Jahr später verachtungsvoll vorbeigehen wirst, von verwesenden Knochen angezogen, noch entdecktest du die Geheimnisse der Spiegel und Treppen, noch machtest du beim Pinkeln die Beine breit wie ein Hundefräulein, doch deine Gene meldeten schon die vielhundertjährige Erfahrung der Sippe.
Schon begannst du dich auf deiner Decke in konzentrischen Kreisen zum Schlaf zu legen, mit denen dein Urvater das Steppengras niedertrat. Schon bemühtest du dich, in unsere steinharten Holzpfosten mit den weichen Pfoten eine Höhle zu graben wie deine Urmutter, als sie in der Taiga der Frost überfiel. Schon zeigte sich deine Eigenwilligkeit und deine Empfindlichkeit für Beleidigungen, dein zwiespältiges Bedürfnis nach Freiheit und Abhängigkeit, was in deinen rätselhaften Vorfahren die unerbittlichen Kämpfe auf Leben und Tod hervorbrachten, die ihr bis heute in dunklen und unbekannten Labyrinthen der Erdlöcher mit schrecklichen Gegnern ohne die Hilfe der Herren führt.
Du wurdest plötzlich zur Attraktion unseres Heims. In der Rangordnung der Lebewesen stiegst du schnell zu den höchsten Säugetieren auf. Unsere Freunde, die nicht gedemütigte crème de la crème des tschechischen Geistes, nahmen dich unter sich auf, sie erkannten die sich entwickelnde Hundepersönlichkeit. An deinem ersten Silvester, als wir es nicht sahen, stellten sie dir die Gläser mit dem letzten Tropfen Sekt auf den Boden. Deine gierige Zunge leckte sie auf höchsten Glanz, dann hast du zwei Tage geschlafen und nie wieder Alkohol angerührt. Allein in dieser Hinsicht bliebst du ein eingeschworener Griesgram.
Du hast uns Licht gebracht in das Jahr, in dem endgültig das Dunkel ausbrach. Doktor Husák war möglicherweise im Jahre 1968, als er noch mit der Gloriole des Reformators Interviews in gutem Deutsch gab, aufrichtig überzeugt, daß die gepanzerte Normalisierung nicht das Ende der Reformen bedeute, sondern die konsequente Überwindung der blutigen fünfziger Jahre. Er selbst war um ein Haar dem Strick entgangen, an dem Rudolf Slánský gestorben war.
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