Pavel Kohout
Tanz- und Liebesstunde
Eine deutsche Romanze
Saga
Für Lilo und Günter Friedrich
in gemeinsamer bewährter Freundschaft,
die alte Gräben in Europa zuschüttet,
ohne frische Gräber vergessen zu lassen.
P.K.
15. März 1989
Montag, 5. 6. 1944, vor Mitternacht
Als sie aus dem stillen und kühlen Korridor in die Dachstube tritt, nimmt sie einen heißen und duftenden Lärm wahr. Sie hört durch das offene Fenster die Grillen zirpen, und dabei fällt ihr ein, daß sie bei ihrer Ankunft in der Festung auf den Wällen Männer mit Sensen gesehen hatte. Der Gestank von Berlin hatte ihr immer wieder Brechreiz verursacht. Den intensiven Duft des welkenden Grases empfindet Christine wie ein Labsal.
Beim Abendessen mit den Eltern fröstelte es sie manchmal. Die Mauern des Herrenhauses sind, wie die ganze Festung, aus Quadersteinen gefügt. Bei geschlossenen Fenstern strahlen sie im Sommer Kälte aus. Sie ist froh, daß sie ihr Fenster offengelassen hat. Sie zieht sich im Dunkeln aus, stützt die Ellenbogen auf den breiten hölzernen Fenstersims und legt die Handflächen der gekreuzten Arme auf die Brüste. Ihr Körper, in den letzten Monaten einem fremden, tückischen Tier ähnlich, gehört ihr wieder.
Es kommt ihr unwirklich vor, daß sie noch heute morgen im Internat aufgewacht war. Zu diesem Traum gehört auch die Direktorin, ‹die Kuh› genannt, die ihr mit säuerlichem Lächeln befahl, sie solle geschwind ihre persönlichen Sachen zusammenpacken. Vor allem gehört dazu jener junge schlanke Offizier mit einem Gesicht, wie sie es seit ihrer Kindheit nur auf Bildern mit Engeln gesehen hatte. Er hatte ihren Koffer zum Wagen getragen, wo der Fahrer des Vaters sie förmlich begrüßte. Unterwegs schlief sie ein.
Erst das Kopfsteinpflaster der schmalen Brücke, in deren Verlängerung die alte Festung emporragte, hatte sie geweckt. Die Sonne, die gerade hinter ihren Dächern und Wällen versank, verwandelte sie in einen riesigen Scherenschnitt aus schwarzem Papier. Vor dem glühenden Himmel bewegten sich jedoch ganz oben im rhythmischen Schwingen der Sensen die winzigen Gestalten der Schnitter.
Dann das mächtige Tor aus dunklen Quadern, das gleich einer Schleuse von zwei schweren Eisentoren mit eingelassenen Türchen verschlossen war. Danach eine kurze Lindenallee und dahinter das zweigeschossige Herrenhaus. Auf seiner Schwelle die Mutter und der Vater, der ihr sogar ein Lächeln entgegenschickte!
Daß er den ganzen Abend über wie gewohnt unnahbar war, konnte ihrer festlichen Stimmung nichts anhaben. Obwohl die Mutter stets Christines Verbündete gewesen war, hatte sie insgeheim ihn von klein auf lieber gemocht. So weit sie zurückdenken konnte, hatte sie ihn nur in Uniform gesehen, mal in dieser oder jener, und fast immer in Gesellschaft von Männern, die ihm unterstanden. Ihr gegenüber gab er sich oft wortkarg und beinah unpersönlich. Im Beisein ihrer Mutter, der er grenzenlos ergeben war, taute er meist ein wenig auf. Untergebene, aber auch Vorgesetzte, alle zollten sie ihm Respekt, der eine Mischung aus Bewunderung und Furcht spüren ließ. Christine liebte den Vater und ertappte sich öfter dabei, daß sie eifersüchtig auf die Mutter war.
Sie hatte sich damit abgefunden, nichts über seine Aufgaben zu wissen. Eine gewisse Zeit litt sie darunter, wenn Mitschülerinnen die Briefe ihrer Väter von der Front in der Klasse vorlasen. Die seinen eigneten sich dazu nicht. Er schrieb darin über Bücher, die er sogar ins Feld mitnahm und wünschte, auch Christine würde sie kennen. Neben den Briefen anderer Soldaten, aus denen kämpferische Mannhaftigkeit dröhnte, muteten seine wie die Briefe einer Tante an. Aber es fragte auch niemand nach ihnen, weder Freundinnen noch Lehrerinnen. Seine Autorität vermochte auch aus der Ferne zu wirken.
Er war einer der wenigen Offiziere, die man nach ihrer Verwundung aus der Ukraine ausgeflogen hatte. Erst nach einer Woche rief er zu Hause an, er sei hier in Berlin und sie könnten ihn besuchen. Völlig verstört war sie an Mutters Seite durch die Säle gegangen, die mit verstümmelten Männern überbelegt waren. Ihre Gesichter waren aschfahl und abgehärmt, ihre Augen schienen schon in eine andere Welt zu starren. Der Vater war frisch rasiert, roch nach seinem «Pitralon» und saß in einem sauberen, gestärkten Hemd aufrecht im Bett, als wollte er im nächsten Augenblick eine Stabsbesprechung abhalten. Beim Anblick der beiden lächelte er ein wenig, küßte sie und bat, ihm zuallererst zu berichten, wie es ihnen in den vergangenen Monaten ergangen sei. Außer sich vor Freude, schwatzte Christine allerlei durcheinander und beneidete die Mutter, daß sie seine Rechte halten durfte.
Als sie endlich nach seiner Verletzung fragen konnten, sagte er nur, der Stabswagen sei auf eine Mine gefahren, die Banditen gelegt hatten, und er als einziger von vier habe überlebt. Ihre Begeisterung über dieses Wunder dauerte nur so lange, bis eine abgehetzte Krankenschwester sein Essen brachte und die Mutter bat, ihm das Fleisch kleinzuschneiden. So erfuhren sie es: Man hatte ihm den linken Arm über dem Ellenbogen und das linke Bein oberhalb des Knies amputiert.
Nach Hause kam er nach Monaten mit Prothesen, der Ostmedaille, dem EKI, dem Verwundetenabzeichen in Silber und einem neuen Marschbefehl. Wie gewöhnlich ließ er sie nur den ungefähren Ort wissen: das Protektorat Böhmen und Mähren, Kreis Leideneritz. Dann traf Christine der nächste Schock: Die Mutter war nicht gewillt, den geliebten Mann der gleichgültigen Fürsorge von Sanitätern zu überlassen, und sie beschloß, ihn zu begleiten. Der Tochter fehlten nur noch zwei Jahre bis zum Abitur. Es wäre töricht gewesen, eine Schule zu verlassen, in der sie gut war. So entschied sich die Familie gemeinsam für ein Mädcheninternat. Jammerschade war es, daß Christine nun ihren Ballettunterricht aufgeben mußte. Das Internat lag in Schöneberg, in der Nähe der Schule, und die Anstaltsleitung erlaubte grundsätzlich keinen privaten Ausgang außer am Sonntag.
Erstaunt war sie, wie schnell sie sich eingewöhnte. Strenges Regiment war sie von zu Hause gewöhnt, in der Anonymität des Internats bedeutete es für sie sogar ein gewisses Maß an Freiheit. Die Schule selbst genoß einen Sonderstatus und deshalb auch zahlreiche Privilegien. Arbeitseinsätze fanden nur von Zeit zu Zeit und unter nicht unangenehmen Bedingungen statt. Einmal in der Woche fuhren die Mädchen nach Wannsee, um dort in einer gutgetarnten Fabrik feinen Draht auf Spulen zu wickeln. Danach durften sie sich am See, der in einem Sperrgebiet lag, nach Herzenslust austoben.
Auch Karten für die Theater, die wegen der nächtlichen Bombenalarme schon am Nachmittag begannen, sofern sie überhaupt noch spielten, bekamen sie zugeteilt und wurden sogar hin- und zurückgekarrt. Sie vergötterte das Ballett und man wußte, wie sehr sie es vermißte; deshalb war sie immer unter den Auserwählten. Sie lernte mühelos, war Kreissiegerin im Hochsprung, und es stand fest, daß sie ab Herbst Sportführerin des «Bundes deutscher Mädchen» an der Schule sein würde. Das ganze Jahr über hatte sie eigentlich nur drei echte Sorgen: Sie vermißte ihre Eltern sehr, und die häufigen, langen Briefe der Mutter steigerten ihre Sehnsucht nur noch; sie fürchtete sich zunehmend vor den Bombenangriffen, obgleich das Villenviertel, in dem das Internat lag, bislang verschont geblieben war; und immer stärker beunruhigte sie der eigene Körper.
Die Mutter hatte sie zwar beizeiten aufgeklärt. Trotzdem glaubte sie jedesmal, sie müsse sterben. Ihre Tage bekam sie zum ersten Mal mit sechzehn – der Schularzt schrieb dies lobend ihrer sportlichen Ertüchtigung zu –, und sie waren von immer heftigeren Schmerzen und stärkerem Blutverlust begleitet. Im Internat wäre es undenkbar gewesen, deshalb nicht zur Schule zu kommen. Die «Kuh» hätte es als eine Art Hochverrat angesehen. Denkt, Mädchen, an die deutschen Männer! Sie vergießen ihr Blut mit zusammengebissenen Zähnen für Großdeutschland – und auch für euch! Was hätte sie da wohl von der Tochter eines Mannes gehalten, der dem Vaterland Arm und Bein geopfert hatte.
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