«Ja.»
«Karli, wenn sie wenigstens Verwundete pflegen dürften, oder was weiß ich, aber die haben Angst, weil es dort so viele Prominentenkinder gibt, und so läßt man sie lieber Tag und Nacht im Keller hocken. Das findest du richtig?»
Er war fertig und schlüpfte so geschickt unter die Decke, daß der halbleere Ärmel und das halbleere Hosenbein vom vollen nicht zu unterscheiden waren. Mit der gesunden Rechten knipste er das Nachttischlämpchen an, nahm Gustav Schwabs «Sagen des Klassischen Altertums» zur Hand und öffnete das dicke, schwere Buch, wo er unterbrochen hatte, mit dem Daumen, mit dem er geschickt umblättern konnte. Dabei schaute er Gertrud an.
«Nein, ich würde sie natürlich zu Verwundeten schicken oder Trümmer wegräumen lassen. Wenn das ganze Volk unter totalem Einsatz aller Kräfte um Sein oder Nichtsein kämpft, gelten andere Gesetze als in normalen Zeiten. Ich meine auch das Gesetz der Ehre, das vor allen Dingen.»
Er begriff, wie sehr er sie verletzte und wollte sie aufmuntern.
«Glaub ans Schicksal, Trudl, das war mir in Rußland gnädig und hat euch beide rechtzeitig vom Anhalter Bahnhof weggebracht!»
Sie überhörte es.
«Karli, deine Ehre war immer auch die meine, das kannst du nicht anders sagen. Aber Christine schreibt, ein gutes Drittel ihrer Mitschülerinnen ist bereits abgefahren. Immerhin sind es doch zukünftige Mütter, ohne die Deutschland seine Verluste nicht ersetzen kann. Welcher Ehre würde sie wohl dienen, wenn sie in einem Keller verschüttet ist? Wenn du schon nicht als Vater fühlen willst, dann denk wenigstens über deine Pflichten als Deutscher nach!»
Er hatte die aufgeschlagene Seite vor Augen, auf der es um die zweite Niederlage der Griechen vor Troja ging, blickte aber Gertrud an, als entdeckte er etwas Neues an ihr. Auf einmal klappte er den Band zu und legte ihn auf den Nachttisch.
«Du magst recht haben. Vielleicht sind es nur noch die bekannten Krämpfe von Fanatikern, die höchstwahrscheinlich vielmehr käuflich sind. Christine nützt Deutschland als Mutter am meisten, da bin ich deiner Meinung. Aber was soll sie denn hier anfangen?»
«Sie wäre einfach bei uns ...»
«Denk mal daran, wie es dir die ersten Tage hier erging! Ich bin Soldat, erfülle hier meine Pflicht, trotzdem sind meine Gefühle nicht abgestorben. Ich bin ein Mensch geblieben, für den nicht einmal eine gerechte Maßnahme an Grausamkeit verloren hat. Bist du hier glücklich?»
«Ja. Weil ich bei dir sein kann.»
«Weich nicht aus! Du bist bei mir, sorgst für mich, für die Frauen und die Schule, du solltest zufrieden sein und mit einem guten Gewissen einschlafen. Weshalb betest du dann?»
«Ich ...»
«Du betest. Ich habe schon mehrmals beobachtet, wie sich deine Lippen im Dunkeln bewegten. Für wen betest du?»
«Für Christine ...»
«Und für mich nicht?»
«Doch ...»
Er wandte den Kopf zum verdunkelten Fenster.
«Und für die dort vielleicht auch?»
«Karli!»
«Warum nicht? Das sind doch auch menschliche Wesen. Gottlob hast du an meiner Seite erlebt, wozu der Feind fähig ist. Diese Erfahrung fehlt Christine. Du hast es verstanden, und das werde ich dir niemals genug danken können, daß sie auch in so schweren Zeiten eine schöne Kindheit erlebte. Gut, ich habe dabei geholfen, aber ich mußte andere für mich sprechen lassen, die Dichter. So bin ich nun mal, ich rede eben nicht viel. Von dir hat sie alle ihre Musikalität! In ein, zwei Jahren muß der Krieg vorbei sein, der Führer hat mit seinem Rückzug die Russen in eine Falle gelockt und auf preußischem Boden ihren westlichen Verbündeten gleichzeitig klargemacht, daß auch sie an Europas Schicksal denken müssen, das heute nur Deutschland verteidigt. Ich weiß, wir werden bald die Vergeltung erleben, die vernichtenden Geheimwaffen. Du zweifelst doch nicht an unserem Sieg?»
«Nein! Aber was hat das mit ...»
«Trudl, wir sollten uns darum kümmern, daß unsere Tochter ihn ohne Schrammen an der Seele erlebt, die wir beide an uns erfahren haben.»
«Ich bete schon dafür, daß sie am Leben bleiben darf.»
«Schau dir den Weißmüller an! Der ist ein paar Jahre älter als Christine. Willst du vielleicht, daß sie so wie der überlebt?»
«Er macht den Eindruck eines wohlerzogenen, zuverlässigen jungen Mannes ... Was ist los mit ihm?»
Sie war verblüfft. Eigentlich war es das erste Mal seit jenen längst vergangenen Zeiten, als die Bewegung in den Anfängen stand und sie beide endlose Gespräche über alles und jeden führten, daß er einen seiner Mitarbeiter erwähnte. Und sogar fortfuhr.
«Ja, er ist zuverlässiger als der Grube, aber gerade seine Erziehung jagt einem Angst ein. Was ich aus Überzeugung tue, aus dem Bewußtsein erkannter Notwendigkeit, tut er aus Fanatismus.»
«Der Führer sagt, Fanatismus ist Ausdruck des höchsten Patriotismus.»
Sie bekam keine Antwort.
«Stimmt das etwa nicht?»
Mit der gesunden Hand zog er die Bettdecke bis ans Kinn. Er schaute vor sich hin.
«Ich habe weder Rang noch Bildung, um mit dem zu streiten, der gerade jetzt der Welt eine neue Dimension eröffnet und dem Leben einen neuen Sinn gibt. Aber ich bin mir sicher, daß er damit nicht Fanatismus meinte, dessen Quelle blinder Gehorsam ist, der leicht gegen das eigene Volk und die eigene Rasse mißbraucht werden kann!»
«Was hat Christine damit zu tun?»
«Weißmüller wird vom Geist dieser Festung geformt, weil er noch keine andere Erfahrung gemacht hat. Während für mich Härte gegenüber dem Feind das äußerste Mittel im Kampf für unsere Ideale ist, bedeutet es für ihn das Ziel. Was ich als schicksalhaft unerläßlich ansehe, was ich in Demut und in der Zuversicht ausführe, das kommende Glück meines Volkes möge es reinwaschen, ist für ihn nur Handwerk, reines Handwerk. Es scheint, als machte ihm das sogar Spaß.»
«Was tut Weißmüller hier eigentlich ...?»
«Lassen wir das!»
Sein schroffer Ton überraschte ihn selbst, und er sprach wieder besänftigend.
«Verzeih ... Mir ist bei dem Gedanken, Christine sollte in diesen Mauern leben, einfach nicht wohl.»
Der Apparat auf dem Nachttisch klingelte. Stellvertreter Grube meldete, einige Bomberverbände seien angekündigt, die von Nürnberg nach Nordosten abdrehen; er habe bereits befohlen, die Scheinwerfer abzuschalten, und die üblichen Maßnahmen veranlaßt. Der Kommandant gab sich einverstanden und kurbelte ab. Die scharf abgerichteten Schäferhunde begannen zu bellen, von den Hundeführern auf den Wall gebracht, um mit ihrem Spürsinn das erloschene Licht zu ersetzen. Gertrud wußte Bescheid.
«Sind sie wieder unterwegs?»
«Ja.»
«Viele?»
«Zwei oder drei Verbände.»
Beide wußten, daß dies eine beliebte Himmelsschiene der Anglo-Amerikaner Richtung Berlin war. Vater und Mutter dachten an die Tochter. Das gab ihr neue Kraft.
«Karli, wenn uns je etwas gelungen ist, dann ihre Erziehung. Ich werd’ ihr hier nähen beibringen, kochen ...»
«Gertrud!» Wie immer, wenn er die Geduld verlor, nannte er sie beim vollen Namen. «Sie liebt Musik und Tanz. Dort kann sie zumindest ins Theater und ins Ballett gehen.»
Ihr Gespür sagte ihr, daß sie ihm diesmal überlegen war, und sie ließ nicht locker.
«Wegen uns beiden mußte sie die Ballettstunden aufgeben! Warum sollte sie eigentlich gerade hier nicht weitertanzen?»
«Soll Köpckes Schwester sie unterrichten? Und auftreten wird sie mit dem Kinderhort?»
«Darüber hab’ ich mir schon Gedanken gemacht, Karli ... Erinnerst du dich, wie Kolatschek kürzlich geprahlt haben soll, wie viele berühmte Künstler er dort hat? Behauptete er nicht, sein Casino im Ghetto steht der Berliner Oper in nichts nach? Grube hat das doch erzählt!»
«Na, und ...?»
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