«Und wenn du den Kolatschek anrufen würdest?»
«Warum sollte ich den anrufen ...?»
«Damit er uns einen Tanzlehrer borgt!»
Er richtete sich im Bett auf wie damals, als sie ihn im Lazarett besuchten.
«Mit dem Kolatschek will ich privat überhaupt nie etwas zu tun haben!»
«Warum denn?»
Er zögerte. Dann versuchte er, seinen Einwand zu umschreiben.
«Seine und meine Aufträge sind von absolut unterschiedlicher Natur.»
«Mag sein. Ihr dient aber beide derselben Sache, nicht wahr?»
Daran hegte er ernsten Zweifel, er hatte ihn nur bisher sich selbst gegenüber nicht präzisiert. Es war sein Grundsatz, daß in der Festung, für die er verantwortlich war, auch gegenüber den erbittertsten Gegnern das Gesetz eingehalten werden mußte. Ihm schien, als herrschten dagegen jenseits des Flusses die Gesetze des Dschungels. Er registrierte sehr wohl, was über die Zusammenstellung der Transporte für den Mitternachtszug gemunkelt wurde, der die wechselnden Ghettobewohner in einer Umsiedlungsaktion jetzt täglich irgendwohin nach Polen brachte. Dabei sollte es wiederholt zu Gewalttätigkeiten, Bestechungen und vielleicht sogar zu Diebstahl am persönlichen Eigentum der Aussiedler gekommen sein. Kleinburger wartete nur auf die nächste Inspektion aus Berlin, um mit ihr ein offenes Wort zu reden. Er war überzeugt, daß die da droben von hier gezielt falsch unterrichtet wurden. Es ging doch in erster Linie, sagte er sich, nicht um das Wohl und Wehe der Juden, sondern um die eigene Sache.
Das Ghetto wurde in einer ehemaligen Garnisonsstadt der Donaumonarchie errichtet, deren militärische Geometrie und ausgeklügelte Befestigungen dem neuen Zweck vortrefflich entsprachen. Leider übertraf die Anzahl der jetzigen unfreiwilligen Einwohner den Stand der damaligen Besatzung und deren Familien um ein Mehrfaches. Die eigentliche, gewaltig wirkende, wenn auch viel kleinere angrenzende Festung fand wiederum eine besondere Verwendung. In den alten Kasematten hatten diverse Sicherheitsämter Gefangene untergebracht, deren Verurteilung noch bevorstand, und auch ehemalige politische Prominenz aus den besetzten europäischen Ländern, sofern diese irgendwann noch einmal nützlich sein könnte. Im sogenannten vierten Hof erwarteten die bereits Verurteilten ihren Tod.
Die Meinung des Festungskommandanten über die Judenfrage entsprach der niedrigen Nummer seines Parteibuchs. Er kannte den Führer persönlich noch aus frühen Münchner Zeiten. Nach dessen Verurteilung im Jahre 1923 war er wiederholt als geheimer Kurier nach Landsberg gefahren, um von sympathisierenden Wärtern neue Seiten seines Buches «Mein Kampf» zu übernehmen. Er war grenzenlos stolz darauf, ihr erster Leser zu sein, und verschlang die Blätter immer begieriger. Einige Sätze prägten sich für immer und ewig in sein Gedächtnis ein. Zum Beispiel, wie genial einfach der Führer im Kapitel «Volk und Rasse» das Judenproblem erläutert hatte.
«Jedes Tier paart sich nur mit einem Genossen der gleichen Art. Meise geht zu Meise, Fink zu Fink, der Storch zur Störchin, Feldmaus zu Feldmaus, Hausmaus zu Hausmaus, der Wolf zur Wölfin ... Es wird nie ein Fuchs zu finden sein, der seiner inneren Gesinnung nach etwa humane Anwandlungen Gänsen gegenüber haben könnte, wie es ebenso auch keine Katze gibt mit freundlicher Zuneigung zu Mäusen.» Und weiter: «Bei jeder Blutsvermengung des Ariers mit niedrigeren Völkern kam als Ergebnis das Ende des Kulturträgers heraus!»
Karl Kleinburger war völlig einverstanden mit der Zügelung einer Rasse, die die Wirtschaftskrise und bereits zwei Weltkriege auf dem Gewissen hatte. Er war jedoch zutiefst überzeugt, daß die gerechte deutsche Sache von keinerlei Unrecht befleckt sein dürfe. Und Kolatschek kümmerte sich einen Dreck darum.
Gertrud unterbrach ihn in seinen Gedanken.
«Karli, wir sind schon über zwanzig Jahre zusammen, und ich erinnere mich nicht, dir irgendwann Schwierigkeiten gemacht zu haben. Deine Grundsätze hab’ ich immer respektiert, auch dann, wenn ich sie nicht verstanden habe. Ich weiß nicht, was du mit diesem Kolatschek hast, aber überlege bitte, was dagegen spricht, Christine nicht diese kleine Freude zu machen für all die großen, die sie uns schon gemacht hat. Ihre erstaunliche Gelenkigkeit und Ausdauer hat sie wieder von dir. Wenn sie sich aufs Tanzen konzentrieren kann, wird sie auf keine dummen Gedanken kommen. Schatz, in einer Woche haben wir doch beide Geburtstag. Schenk mir sie und ihr die Tanzstunden ...!»
Bevor er noch antworten konnte, hörten sie, wie zuerst fern in Leideneritz und im Ghetto und kurz darauf auf dem Turm über dem Festungstor die Sirenen ertönten, jenes wild heulende Glissando des Alarms. Der Kommandant hatte sich im Verborgenen bereits seine Prothesen angeschnallt. Dann schaltete er das Licht aus, schob die dichte Gardine beiseite und öffnete das Fenster.
Die dunklen Mauern der Festung verschmolzen mit dem sternenlosen Himmel. Die Sirenen verstummten. Die Erregung der Hunde wurde durch das ferne Bellen der Flak gesteigert. Und als setzten die Kontrabässe eines großen Orchesters ein, nahm das dumpfe Geräusch einer gewaltigen Luftarmada zu, bis es alles andere übertönte. Kleinburger mußte sehr laut sprechen.
«Gut, Trudl. Den Stein der Weisen hab’ ich nicht gefunden. Versuchen wir’s.»
Nun liegt er wieder neben ihr, ihr Karli. Die heutige Nacht ist ruhig, eine Nacht der Grillen und des betörenden Dufts von welkendem Gras, im Lichte der starken Scheinwerfer glitzern wieder die Blätter der Linden, als sei der Wasserspiegel bis zu den Fenstern angeschwollen. Der Krieg ist weit, und vor dem Wüten einheimischer Feinde schützen sie mächtige Festungswälle. Unter dem Dach des Herrenhauses schläft ihre Tochter, ein Kind der Liebe, die nicht einmal zwanzig Jahre, eins schwerer als das andere, abzustumpfen vermochte.
Gertrud sieht sich im Alter ihrer Tochter, sieht sich wieder in Mutters Dirndl, wie sie die Last der Maßkrüge zum Tisch trägt, wo sie der freudige Lärm fröhlicher Burschen empfängt – ihren Dienst als Störtrupps der roten Maiumzüge hatten sie gerade hinter sich –, und einer, der einzige ohne die Hakenkreuzarmbinde, dafür in zugeknöpfter Jacke und mit gestärktem Hemdkragen, als sei er aus der Kirche gekommen, läßt immer, wenn sie mit den schweren Krügen kommt, kein Auge von ihr, sagt als einziger kein Wort, und als sie sich wieder einmal ihrer Last entledigt hat, die erste, zweite, dritte, vierte, fünfte, sechste Maß, ach Gott, sieben sind’s ja, und gerade er hat keines abgekriegt! ärgert er sich trotzdem nicht, und als die Runde ihn auslacht, daß sie ihm als einzigem nichts gegeben hatte, erhebt er sich in seiner ganzen Größe und sagt mit angenehmem Bariton zu ihr – Falls Sie nichts dagegen haben, mein Fräulein, würde ich anstelle der Maß Sie nehmen! – huronisches Gelächter bricht aus, das abreißt, als ihnen aufgeht, daß gerade er bisher nie gescherzt hatte, und tatsächlich: Er meinte, was er sagte, und ihr fiel es nicht leicht, den Worten, die beim Bier in einer Gartenwirtschaft voller Krach und Gejohle gesagt wurden, zu glauben, doch sie war sofort entschlossen, es zu tun, was wiederum ihn überraschte, und beide hatten zwanzig Jahre ihr Wort gehalten, und kein Strudel der Zeit war stärker als diese beiden Worte, und jetzt in diesem Land und dieser Festung, die ihr ewig fremd bleiben werden, erkennt sie wieder die Tiefe ihrer Sicherheit. Er ist es! Fort die Hand, die sie beim Einschlafen hielt, weg das Bein, auf das sie ihres zu legen pflegte, er aber ist immer hier, und sie gehört ihm, und er begehrt sie, dreht sich wie immer zärtlich zu ihr um, jetzt fast körperlos, stützt sich wie gewohnt auf den Ellenbogen, der ihm geblieben ist, und umfängt sie mit der einzigen Hand und entblößt sie und öffnet sie mit dem ihm verbliebenen Knie ... Ach, Karli, ach, du mein Glück!
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