Pavel Kohout
Roman
Aus dem Tschechischen von
Aleš Půda
Saga
Pavel Kohout: Die Schlinge. Aus dem Tschechischen von Aleš Půda. © 2008 Pavel Kohout. Originaltitel: Smyčka. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2016 All rights reserved.
ISBN: 9788711449042
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
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I. Frühling 1948
Sie war sich bewusst, dass sie auf das Treffen mit Jan zuerst sehnsüchtig, dann hoffnungsvoll und später nur noch mit Bedenken auf den Tag genau drei Jahre und drei Monate gewartet hatte, jetzt aber kam ihr jede weitere Minute unendlich vor.
Das Gesicht ihres Mannes riss sie aus ihren Gedanken. Sie konzentrierte sich auf die Leinwand und sah ihn mit seinen treuesten Verbündeten ins Prager Volkshaus hineingehen. Dazu sagte eine männliche Stimme, dass die bevorstehende Vereinigung der sozialdemokratischen Partei mit der kommunistischen aller Voraussicht nach mit der Unterstützung des Abgeordneten Felix Fischer stehe und falle. Er wurde als Minister in Beneš’ Exilregierung und als namhafter Kommentator der tschechischen Rundfunksendung ›London Calling‹ erwähnt, der sich von seinen Zuhörern in der Heimat den gesamten Krieg über mit den Worten »Gute Nacht und feste Hoffnung!« zu verabschieden pflegte.
Das Kino ›Eintracht‹ im Prager Stadtteil Dejvice gähnte an diesem sonnigen Mainachmittag vor Leere, die Zuschauerpärchen waren vermutlich in ebensolchen Logenplätzen versunken, wie sie selbst. Wie in ihrem geliebten Kino in Brünn, wo sie einst die unbeholfenen Zärtlichkeiten ihrer ersten Verehrer erfahren hatte, war man voneinander durch solide Wände getrennt. Und wie in dem Kino, das zusammen mit Dresden niedergebrannt war ... Sie lud Jan Soukup hierher nicht aus Sentimentalität, sondern aus Not ein. Die Kinos gehörten zu den seltenen Orten, wo sie ihr Seidentuch vom Kopf nehmen konnte, ohne dass irgendjemand ein Autogramm von ihr wollte.
Von dem Augenblick an, als Felix sie unerwartet gebeten hatte, ein Treffen für ihn mit Jan zu vereinbaren, ohne Aufsehen zu erregen, lebte sie in ständiger Anspannung. Es grenzte an ein Wunder, dass sie ihn die ganze Zeit lang in Prag nicht getroffen hatte, zumal er jetzt genauso bekannt war wie sie. Felix’ Anliegen versprach, sie von ihrer größten Furcht zu befreien: dass sie einander zum ersten Mal wieder vor anderen Leuten träfen und gezwungen sein würden, Belanglosigkeiten auszutauschen, die der Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, nicht würdig wären. So abstoßend, und doch so wunderbar!
Sie brachte es nicht fertig, die Rolle der Schauspielerin abzulegen, und arrangierte so das heutige Treffen lange im Voraus. Sie darf sich nichts zuschulden kommen lassen, womit sie ihn verletzen oder gar beleidigen könnte. Aber sie darf auch all das nicht zulassen, was das unsichere Gleichgewicht bedrohen könnte, das sie nur mit Mühe gewonnen hat, nachdem sie erst zu spät erfuhr, dass er am Leben blieb. Sie wird also zuerst seine Hand nehmen und ihre Entschuldigung wiederholen, die sie ihm damals nur zu schreiben und an seine Mutter zu senden gewagt hat. Dann wird sie Felix’ Nachricht überbringen und Ort sowie Zeit verabreden. Daraufhin wird sie ihn bitten, vor ihm gehen zu dürfen. Und bevor sie die Loge verlässt, wird sie ihm viel Glück wünschen und ihm einen Kuss auf die Wange geben ...
Von der Leinwand schallten Kampflieder zweier Umzüge mit unterschiedlichen Fahnen. Hämmer und Sicheln wechselten sich mit roten Nelken ab. Eine männliche Stimme sagte dazu, dass der erste Mai 1948, der Tag der Arbeit, wahrscheinlich der letzte sei, den beide Linksparteien in diesem Land getrennt begingen.
Plötzlich rüttelte sie eine Berührung auf. Eine Hand legte sich sanft an ihren entblößten Hals. Sie fing an zu zittern. Streichelnde Finger besänftigten sie. Endlich sammelte sie ihre Kräfte und schaute auf. Jan stand dicht hinter ihrem Stuhl und sah sie an. Sie schaute ihn an und vergaß völlig, was sie sich zurechtgelegt hatte. Die schallende Marschmusik wurde von einem modischen Schlager abgelöst, der Hauptfilm begann. Nach einer Weile setzte sich Jan zu ihr und umarmte sie.
Es war genauso wie vor vier Jahren in Dresden. Sie begann ihn so zu küssen, als hätte sie all das nachholen wollen, was sie mit ihm verpasst hatte. Von der Leinwand plätscherte dazu ein seichtes Lustspiel, das noch während der deutschen Okkupation gedreht worden war. Er unterbrach die Umarmung, griff in seine Tasche und zeigte ihr einen Ring mit zwei Schlüsseln.
Jan Soukup liebte Kamila Nostitzová seit dem Moment, als er sie im brechend vollen Lucernasaal zum ersten Mal gesehen hatte. Und von da an konnte er Felix Fischer nicht leiden. Zuvor hatte er ihn respektiert als einen der besten Professoren, den ihm die philosophische Fakultät in seinem ersten Studienjahr anbieten konnte, ihn störte es eigentlich auch nicht, dass er Mitglied einer bourgeois gewordenen sozialdemokratischen Partei war, eine Zeit lang sogar ihr Abgeordneter, bevor ihn die Karlsuniversität anzog. Jan imponierte auch seine bezaubernde französische Ehefrau, mit der er ihn ab und an gemeinsam im Café Slavia sah.
Sozialdemokraten waren auch Jans Großeltern gewesen, aber schon der Vater und die Mutter hatten zu den Abtrünnigen gehört, die an die russische Revolution geglaubt und sich danach gesehnt hatten, dass die Diktatur des Proletariats auch die Tschechoslowakei aus den Fesseln der Bourgeoisie löse. Dass die Revolution mit einem Mal auch den Sohn vereinnahmte, den vorher eigene lyrische Versuche voll und ganz beschäftigt hatten, bewirkte jene Manifestation der Prager Antifaschisten, die für die Verteidigung der Republik gegen Hitler im Herbst 1937 eintraten.
Vor Ende der Abendvorstellung trat das Mädchen mit den kastanienfarbenen Haaren auf, das in einer gedämpften Altstimme Verse von Majakowskij rezitierte. Für Jan war dies bis dahin keine Poesie gewesen, eher eine eigentümliche Form der Agitation. Für ihn war Jessenin der König unter den Dichtern. Diese junge Frau, sichtlich reifer als Jan, hauchte ihnen durch die Art ihres Vortrags eine überzeugende Wahrhaftigkeit ein, sie erinnerte ihn an die Heldin des Bildes, das im Gang der Volksschule hing und die Französische Revolution auf den Barrikaden verkörperte. Der Lucernasaal donnerte, applaudierte und stampfte, aber Jan hörte eine bis dahin ungekannte Stille in sich. Er fühlte sich vor dem Taifun in dessen Auge geborgen.
Den Mädchen lief er nicht hinterher, sie suchten ihn selbst aufgrund seines maskulinen Äußeren, seines zuvorkommenden Gemüts und seines vielseitigen Talents. Nach den jungen Kommunistinnen waren es die Philosophinnen in bestickten Blusen, die züchtig ihren Busen verhüllten. Er schrieb ihnen Liebesgedichte, aber er wusste nur zu gut, dass diese Leidenschaft gekünstelt war. Im Lucernasaal entdeckte er die Liebe. Er kämpfte sich hinter die Kulissen, um sie wenigstens ansprechen zu können. Da führte sie sein verheirateter Professor Hand in Hand fort. Und Jan verspürte zum ersten Mal Hass.
Die Fakultätsaula wurde für ihn zur ersten Kampfarena, wo im Vorfrühling 1938 die Sprecher führender politischer Parteien in einer heftigen Diskussion, ob es die bedrohte Republik zu verteidigen gälte oder nicht, aufeinandertrafen. Felix Fischer war der Einzige, der nicht zum Krieg blies, sondern zur Besinnung mahnte. Der Student im zweiten Studienjahr Jan Soukup meldete sich zu Wort und beschuldigte ihn hitzköpfig, die Sozialdemokratie hätte sich im Gegensatz zu den Kommunisten geweigert, die seitens der Sowjetunion selbstlos angebotene Hilfe anzunehmen. Er erntete ähnliche Ovationen wie seine Liebe im Lucernasaal; jene entdeckte er hier am Rand der letzten Reihe und trug nun seinen Ringkampf vor ihr aus.
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