Pavel Kohout - Sternstunde der Mörder

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Prag in den Wirren der letzten Monate der deutschen Besetzung: Der tschechische Kommissar Beran und sein Assistent Morava stehen vor einer heiklen Aufgabe. Gemeinsam mit dem deutschen Oberkriminalrat Buback sollen sie den Mord an einer deutschen Generalswitwe aufklären. Doch welche Rolle spielt Buback? Ist er nur ein Spitzel, dessen Aufgabe nicht in der Aufklärung des Mordfalls liegt, sondern vielmehr darin, herauszufinden, wie tief die Prager Kriminalpolizei in den Widerstand gegen die deutschen Besatzer verstrickt ist? Unterdessen schlägt der Mörder wieder zu, ein psychopathischer Serientäter. Aber als im Mai der Aufstand gegen die Besatzer ausbricht, geht es längst nicht mehr um einen Mörder … Biografische Anmerkung Pavel Kohout, 1928 in Prag geboren, zählt zu den international bekanntesten Schriftstellern und Dramatikern. Als einer der Wortführer des «Prager Frühlings» von 1968 wurde er aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und über 20 Jahre totgeschwiegen. Mitverfasser der «Charta 77», daraufhin 1979 ausgebürgert. Zu seinen bekanntesten Werken gehören «Die Henkerin» (1978), «Wo der Hund begraben liegt» (1987) und «Sternstunde der Mörder» (1995). 2010 erschien seine Autobiografie «Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel». Pavel Kohout lebt heute wieder in Prag.

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Pavel Kohout

Sternstunde der Mörder

Roman

Deutsch von Karl Heinz Jähn

Saga

Für Jelena

Die Idee dieses Romans entstand am 13. April 1989 in San Nazzaro, Tessin, das Manuskript – zunächst unter dem Titel «Der Witwenschlächter» – in der Zeit vom 12. Juli 1992 bis 9. März 1995 an folgenden Orten:

Anacapri – Emmetten – Stuttgart – Düsseldorf – Hildesheim – Magdeburg – Wien – Zürs – Zell am See – Praha – Sázava – Capri – Berlin – Dresden – München, Eden Wolff

Februar

Als unmittelbar nach dem Jaulen der Sirene die Türklingel schrillte, war Elisabeth Baronin von Pommeren überzeugt, der tschechische Hausmeister sei da, um sie mit dem Fahrstuhl in den Keller hinunterzubringen; sie warf sich den schwarzen Pelz wieder über, den sie eben erst hinhängte, nahm ihr Luftschutzköfferchen, hakte die Sicherheitskette auf und wußte, daß sie ihrem Mörder geöffnet hatte.

Sie hatte den Mann mit der prallen Schultertasche flüchtig auf dem Vyšehrader Friedhof wahrgenommen, es war ihr nichts Ungewöhnliches mehr, daß die Tschechen bereits in aller Öffentlichkeit die Gräber ihrer Nationalheiligen schmückten, den deutschen Okkupanten zum Trotz. Er hatte den Eindruck eines Handwerkers gemacht, der dort auf einen Sprung bei seiner Runde vorbeikam, und sie bemerkte ihn deshalb nur flüchtig, weil sein Gesicht gegen die scharfe Sonne wie das eines Negers wirkte. Jetzt blickte sie in Augen wie aus Glas, farblos und ausdruckslos. Ohne jede Hast keilte er seinen abgewetzten Schuh mit der dicken Gummisohle zwischen Türflügel und Schwelle und schob ebenso langsam seinen in eine wattierte Bundjacke gezwängten Körper hinterdrein. Und schließlich sah sie die lange und seltsam schmale Klinge. Ein Tranchiermesser! erinnerte sie sich.

Die Baronin wußte, daß sie sterben würde, doch sie unternahm nichts, es zu verhindern. Nicht nur, weil ihr Schrei hier im obersten Stock, wo sie allein geblieben war, im Gedröhn der Flugzeugmotoren, das sie so in Prag noch nie gehört hatte, untergegangen wäre: Die Baronin wollte nicht mehr leben.

Als Katholikin durfte sie nicht Hand an sich legen, und so war sie schon seit langem auf die Strafe Gottes gefaßt. Dieser Krieg konnte nicht anders enden als mit der Vernichtung aller, die ihn gebilligt hatten! Ihren Mann hatte ein russischer Partisan erschossen, ihren Sohn ein Maquisard in der Bretagne. So schien es ihr nur verständlich, daß jetzt ein Mann vom tschechischen Widerstand kam, um auch an ihr Rache zu nehmen.

Das gewaltige Patrizierhaus begann zu beben. Ein überirdisches Glockengetön schwoll an. Die rasch näher kommenden Detonationen ließen die Fensterscheiben, die Lüsterbehänge und die Weingläser in der Vitrine immer stärker erzittern.

Barmherziger Gott! betete Elisabeth von Pommeren, in den Salon zurückweichend, als bitte sie den Gast herein, ob Bombe oder Messer, wenn es nur schnell geht!

Ihr Mörder stieß die Tür mit dem Fuß hinter sich zu und öffnete mit der freien Hand die Tasche, die voller Riemen war.

Donnert es? fragte sich Oberkriminalrat Buback verwundert, jetzt im Februar? Doch noch ehe er zu Ende denken konnte, schlug es ein. Da wußte er, daß eine schwere Fliegerbombe verdammt nahe niedergegangen war.

Das Gebäude der Prager Gestapo, in dem er als Verbindungsmann des Reichskriminalpolizeiamts tätig war, schwankte eine ganze Ewigkeit wie wild, stürzte dann aber doch nicht ein. Es folgte die übliche Stille nach dem Schock, die angehaltene Zeit. Bis mit Verspätung die Sirenen aufheulten und die Referenten und die Sekretärinnen auf der Treppe draußen in den Schutzraum hinunterpolterten.

Unbewegt starrte er in die beiden Gesichter.

Der Keller der ehemaligen Petschek-Bank war ihm zuwider. Einige der Tresore waren zu Zellen umgebaut worden; wie es hieß, half man dort den Politischen ziemlich rigoros beim Erinnern nach. Diesmal blieb er jedoch vor Staunen hier oben: Es war, als hätten das Krachen und das Gerüttel Hilde und Heidi wiedererweckt.

Das gerahmte kleine Bild war mit ihm gemeinsam durch den Krieg gezogen. Seine Arbeitsstätten wechselten wie die Städte und Länder, doch überall lächelten ihm diese beiden gedankenvoll zu, das ältere und das jüngere Abbild einer still leuchtenden Anmut, in der er seinen Frieden fand. Über ihre Gesichter hinweg, die er im letzten Vorkriegssommer auf Sylt so lebensecht festgehalten hatte, erledigte er seine Beratungen und Verhöre, zumeist nahm er sie dabei überhaupt nicht wahr. Doch nicht eine Stunde gab es, da er sich nicht in einer Aufwallung von Freude bewußt war, daß sie beide irgendwo anwesend waren, in der Ferne, aber lebendig und die Seinen.

Im vorigen Jahr in Antwerpen hatte er sie auch vor Augen gehabt, als vor dem Rückzug die Männer aus anderen Abteilungen auf dem Hof Akten verbrannten. Er nieste gerade, denn der beißende Rauch reizte seine Schleimhäute, und eine Weile verstand er die fremde Stimme am Telefon nicht, die ihm zur Kenntnis gab, daß die beiden tot seien. Das Lächeln auf dem Foto, damals noch warm von ihrer Gegenwart in ihm, die zwischen Lebenden Entfernungen aufhebt, schloß das, was er hörte, aus. Der Offizier von der Berliner Zentrale las ihm darum den Polizeibericht vor.

In dem fränkischen, von mittelalterlichen Wehranlagen umgebenen Dorf, in das man zu seiner Erleichterung Hilde vorletztes Jahr aus dem bedrohten Dresden versetzt hatte, um Kriegswaisen zu unterrichten, wurde seit Menschengedenken nur Wein angebaut, es konnte auf keiner Zielliste der Alliierten stehen! Hilde und Heidi wurden als einzige von der verirrten Bombe getötet, die ohne Vorwarnung genau mittags auf das Haus mit der Lehrerwohnung fiel.

Als er das endlich begriffen hatte, erstarrten die lebhaften Gesichter auf dem Bild zu leblosen Grimassen. Er stellte dann das Foto noch auf weitere Schreibtische, doch es verströmte Grabeskälte, rief nichts in ihm wach. Nicht einmal Trauer. Bis zu dem Augenblick, als eine andere Bombe dicht neben ihm einschlug.

Ja! wußte er plötzlich, genau so muß es geschehen sein, wie jetzt in dieser Prager Mittagsstunde. Bestimmt haben sie einander gegenübergesessen, mit dem Stuhl und dem Teller für ihn am Tischende, woran sie seit seinem einzigen Besuch hartnäckig Tag für Tag festhielten. So war er auch in jenem Augenblick bei ihnen, als Luftdruck und Gluthitze sie ohne Angst und ohne Schmerz in Rauch und Asche aufgehen ließen!

Mit der unerwarteten Sprengbombe in unmittelbarer Nachbarschaft schien jetzt auch in ihm die befreiende Erkenntnis explodiert zu sein, daß der Engel eines gnädigen Todes seine Lieben hinaufgeholt hatte. Nun hatte er sie ihm wiedergegeben. Die erstarrten Züge auf dem glänzenden Papier wurden weich, die frühere Wärme kehrte in sie zurück, erneut waren sie beide mit ihm vereint, Hilde und Heidi, so wie er sie damals aufgenommen hatte und solange sie lebten. Dadurch tief bewegt, verstand er zunächst nur halbwegs die Nachricht, mit der Kroloff etwas später bei ihm eintrat.

Sein Adjutant und vielleicht auch Aufpasser, weil von der Gestapo zugeteilt, der sich täglich den hohen schmalen Schädel rasierte, um sein schütter werdendes Haar für die Friedenszeit zu kräftigen, meldete, ein Volltreffer habe das Eckhaus ihres Blocks weggerissen. Genau gegenüber dem Nationalmuseum, bedauerte er, ein paar Meter weiter, und den Tschechen wäre die Lust vergangen, sich über die noch rauchenden Trümmer des Zwingers zu freuen!

Ein paar Meter weiter, dachte Buback, und ich wäre ohne Schmerz und Angst mit ihnen vereint gewesen ... Zerstreut hörte er weiter zu und mußte sich die zweite Nachricht wiederholen lassen. Seit langem war er überzeugt, ihn könnte nichts mehr überraschen. Kroloffs Meldung beraubte ihn jedoch einer weiteren Illusion. Er entschied, über eine derartige Perversität müsse er selbst Standartenführer Meckerle Meldung machen.

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