Pavel Kohout - Tango mortale

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Julia, die ehemals gefeierte Primaballerina, ist in die Jahre gekommen. Die Heirat mit einem italienischen Fürsten hat ihr ein Millionenvermögen beschert. In Prag, ihrer Heimatstadt, begegnet sie dem jungen Leo, der seine Position in einer IT-Firma aufgegeben hat, um sich als bezahlter Taxi-Dancer bei Tango-Partys durchzuschlagen. Sein Aussehen, seine Jugend und seine tänzerische Virtuosität machen ihn zu einem geeigneten Kandidaten für ihren raffinierten Plan: Um ihr Vermögen vor der Verwandtschaft zu schützen, soll Leo adoptiert und so der Alleinerbe werden. Aber Leo hat in Prag einen fatalen Deal abgeschlossen, der ihn bis nach Italien verfolgt… Prag, Rom und Capri sind nur einige Stationen des neuesten Romans von Pavel Kohout, dessen Episoden Vergangenheit und Gegenwart Europas berühren. Ein Roman, der nicht nur alle Kohout-Fans in seinen Bann ziehen wird. «Hinter diesen flachen Hügeln», sagte sie, «liegt Rom. Und alles, was du siehst, wenn du dich umschaust, ist die Regione Mortadini. Mein Fürstentum.»
AUTORENPORTRÄT Pavel Kohout, 1928 in Prag geboren, ist als Schriftsteller und Dramatiker international bekannt geworden. Als einer der Wortführer des «Prager Frühlings» von 1968 wurde er aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und über zwanzig Jahre totgeschwiegen. Mitverfasser der «Charta 77», daraufhin 1979 ausgebürgert. Zu seinen bekanntesten Werken gehören: «August August, August» (1968); «So eine Liebe» (1969); «Wo der Hund begraben liegt» (1987) und «Sternstunde der Mörder» (1995). Bei Osburg erschienen «Die Schlinge» (2009) und «Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel» (2010) und «Der Fremde und die schöne Frau» (2011). Pavel Kohout lebt heute in Wien und Prag.

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Pavel Kohout

Tango mortale

Roman

Aus dem Tschechischen

von

Silke Klein

Saga

Der tschechisch-deutsch-italienischen Schauspielerin und leidenschaftlichen Tangotänzerin Jitka Frantová-Pelikánová gewidmet.

P. K.

Die Stufen des Dramas nach Aristoteles:

Die Personen werden vorgestellt.

Die Personen treffen aufeinander.

Die Personen machen sich schuldig.

Die Personen beschuldigen sich.

Die Personen werden verurteilt oder sittlich gereinigt.

Dann bekommt das Drama einen Sinn.

Exposition

I. Giulietta

Mit einem Schluck Single-Malt-Whisky begann sie jeden ihrer Flüge, denn sie hatte sich ihr ganzes langes Leben nicht damit abfinden können, dass ein Haufen Metall, der sehr viel schwerer war als Luft, fliegen konnte. Auch diesmal füllte sie sich rechtzeitig aus der Hausbar ihren silbernen Flachmann, den ihr Vittorio geschenkt hatte, wann? zum Fünfzigsten, und der war schon lange im Nebel der Zeit verschwunden. Aus der gecharteten Cessna stieg ihr Lieblingspilot aus, den sie sich rechtzeitig bei der Firma hatte bestellen können.

»Hallo, Michal!«

»Ich grüße Sie, Fürstin! Wir haben uns ja lange nicht gesehen.«

»Eben. Also sind Sie schon wieder geschieden?«

»Irgendwie habe ich das bisher nicht geschafft.«

»Nein! Immer noch die Australierin?«

»Neuseeländerin.«

»Ja ... da hat Sie wohl endlich eine wirklich gekapert?«

»Es sieht so aus. Wir erwarten bald ein Kind.«

»Soweit ich weiß, ist es das dritte!«

»Ja, soweit ich weiß.«

»Allerdings hat Sie das, wie wir alle wissen, noch nie daran gehindert, auszufliegen.«

»Zum ersten Mal droht eher, dass sie ausfliegt.« Er grinste und wollte ihr die Treppe hinaufhelfen, doch wie immer wehrte sie ab und stieg selber hoch.

Mickel Comar, entgegen seinem ursprünglichen tschechischen Namen Komár, also Mücke, ein zwei Meter großer junger Mann, war ein Kosmopolit, der drei Weltsprachen beherrschte, doch mit ihr sprach er nur in der gemeinsamen Muttersprache – Mährisch, wie sie stolz das Tschechische in der Region Haná bezeichnete. Michal, der zum ersten Mal im franko-kanadischen Montréal das Wort »Mama« von sich gab, hatte das kleine Einmaleins im anglo-kanadischen Vancouver gelernt und im italo-schweizerischen Locarno Technik studiert, wo sein Vater Vorlesungen über Völkerrecht hielt, und er hatte sich seine Muttersprache perfekt in Wort und Schrift erhalten, wenngleich seine Eltern, die nicht an die Dauerhaftigkeit der politischen Erwärmung der sechziger Jahre glaubten, sofort nachdem sie ihren ersten Reisepass erhalten hatten, emigrierten. Was sie während der komplizierten Anfangsjahre bei seinen zwei Geschwistern in Amerika nicht geschafft hatten, kompensierten sie bei ihrem Jüngsten, der schon in Kanada zur Welt kam und der dann nach der Rückkehr normaler Verhältnisse in seiner freien Heimat der King war, als er seinen auf ihn eifersüchtigen Brüdern ihre Flirts übersetzte. Giulietta hatte ihn kennengelernt, als er sie, damals noch zusammen mit Vittorio, von Cannes zurückflog, wo sie der Jury bei einem Wettbewerb junger Balletttänzerinnen vorgesessen hatte; während er Vittorio die Treppe hinabhalf, rief er seinem vorbeigehenden Kollegen »Ahoj!« zu. Michal war anscheinend beliebt und als Pilot zuverlässig, denn man musste ihn bei der Gesellschaft Aviatica mindestens einen Monat im Voraus buchen. In den zehn Jahren, in denen sie ihm mindestens einmal in drei Monaten begegnet war, hatte er es zweimal zum Vater gebracht und sich zweimal scheiden lassen, wenngleich er die Christusjahre, also dreiunddreißig, noch nicht erreicht hatte. Die offensichtliche Unbeständigkeit war eigentlich das Einzige, was störend an ihm war, um als Hauptkandidat in ihrem immer dringlicher werdenden Plan zu gelten; lange hatte sie sich auf Anraten ihres Rechtsanwalts angeschickt, ihn bei der nächsten besten Gelegenheit für ein paar Tage zu buchen, um Zeit zu haben, ihn ordentlich zu durchleuchten, doch gerade heute hatte sie dazu nicht die geringste Lust.

Zu ihrem runden Geburtstag unternahm sie eine Reise, die sie vierzig Jahre lang aufgeschoben hatte. Michal wunderte sich, dass niemand mit ihr »dorthin« flog. Deshalb war seine nächste Frage für sie keine Überraschung.

»Prinzessin, ist dies heute das erste Mal oder waren Sie schon einmal mit jemand anderem dort?«

»Das könnte ich Ihnen nicht antun, Michal.«

»Und wie kam es dazu ... so auf einmal?«

»Familienangelegenheiten. Ich kann sie nicht länger aufschieben.«

»Wartet jemand auf Sie?«

»Peppino mit seinem Wagen.«

»Ich meinte jemand, der sich auskennt.«

»Nein, ich habe dort niemanden mehr.«

»Schade, dass ich weitere Kunden habe, ich würde für Sie gern den Reiseführer durch Prag spielen.«

»Mein Fehler, dass mir das nicht eingefallen ist, aber ich will eigentlich woanders hin.« Sie hatte keine Lust, sich ihm anzuvertrauen, und er war zu gut erzogen, als dass er sie weiter ausgefragt hätte, so stellte er nur noch eine Frage:

»Und in welchem Hotel wohnen Sie?« Sie sagte ihm den Namen, den sie selbst erst seit gestern kannte.

»Das ist Extraklasse. Zuletzt hat Obama dort residiert.« Dann wechselte er das Thema. »Haben Sie mich auch für den Rückflug gebucht?«

»Ich habe leider keine Ahnung, wann ich zurückkommen werde.« Er nahm es zur Kenntnis, wünschte ihr wie immer »happy landing« – worauf sie ihm wie immer antwortete, dass dies ganz an ihm liege – und überließ sie dem Steward. Diesen älteren Italiener musste sie logischerweise schon irgendwann an Bord einer der Aviatica-Maschinen getroffen haben, doch der hatte sich nicht in ihr Gedächtnis eingeprägt, was, wie sie meinte, nur daran liegen konnte, dass er keine Persönlichkeit hatte. Sie hegte keinen Wunsch, und so verließ er mit einer Verbeugung die Kabine, schob die Verbindungstüre zu und zog sich ins Cockpit zurück.

Der Salon für die Reisenden war in den teuersten Cessnas individuell eingerichtet, in diesem war sie schon mehrmals geflogen, ihn schmückten Reproduktionen von Gemälden aus der Sixtinischen Kapelle. Sie wusste längst, dass diese Maschine gern von Diplomaten des Vatikans genutzt wurde, deshalb befand sich hier auch ein altertümlicher Betstuhl. Der kleine, aber elegant eingerichtete Raum war für sechs Reisende bestimmt, von denen jeder seinen Ledersitz in eine Liege verwandeln konnte. Wie immer küsste sie ihr Medaillon, nahm den Flachmann aus der Handtasche, schraubte den Verschluss mit dem kalibrierten Kelch ab und trank ihr obligatorisches »Hütchen«, wie sie sagte, Malt-Whisky, den Vittorio direkt von einer irischen Schnapsbrennerei bezogen hatte, wo sie ihn gemeinsam auf der Hochzeitsreise gekostet hatten. Sofort spürte sie jene Leichtigkeit, die sie an die drehenden Hebefiguren des Pas de deux in den Armen eines perfekten Partners erinnerten. Als Michal an den Anfang der Startbahn gerollt war und der Düsenflieger wie ein Rennpferd aus der Box startete, hatte sie sich mit dem Gedanken angefreundet, dass diese Tonnen Masse wirklich in die Luft aufsteigen können.

Sie wusste, dass die Reise gegen den Strom so vieler Jahrzehnte knapp zwei Stunden dauern würde, trotzdem war sie überrascht, wie schnell ihr Michal über das Bordtelefon mitteilte, sie würden gerade die Grenzen ihrer alten Heimat überfliegen. Seit dem Start waren achtzig Minuten vergangen, und sie wurde sich bewusst, dass sie die ganze Zeit halb sitzend, halb liegend verbracht hatte, völlig »abgeschaltet«, reglos und ohne einen einzigen Gedanken. Sicherheitshalber hatte sie sich noch ein zweites Hütchen genehmigt, auf dass es sie auch weiterhin nicht nur vor Erinnerungen, sondern auch vor der Versuchung bewahren möge, aus dem Fenster zu schauen. Sie hielt es erst nicht mehr aus, nachdem die Maschine schnell an Höhe verlor und Michals Stimme sie fragte, ob er über der Stadt kreisen solle.

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