Er kannte sich zu gut, und so stellte er die Weckfunktion im Handy ein, eher er sich völlig betrank. Trinken konnte er zum Glück, somit wusste er, dass er funktionieren würde. Trotzdem genehmigte er sich eine schottische Dusche, bis er sich durch die heißen und kalten Wasserstrahlen vollständig wiederhergestellt hatte. Er erinnerte sich matt daran, dass er sich in der Nacht den dreien in Prag gegenüber zu irgendetwas verpflichtet hatte, doch der verletzte Stolz war immer noch stärker. Vollständig gepackt und nach einem guten Frühstück – dieses hatte er ausgiebig genossen! – kam er zur Rezeption in der Vorfreude, sich von der Alten zu trennen. Doch dort wartete ihr Muskelmann, der ihm den Koffer mit seinen Privatutensilien und den mit dem Zurückzugebenden abnahm und ihm in der Tür den Vortritt ließ. Die Alte saß schon im Wagen und lächelte ihm entgegen, so als danke sie ihm für eine unvergessliche Nacht.
Beim Frühstück in ihrem Apartment hatte sie noch einmal die Karte studiert, auf der sie bereits in Rom die Stelle gefunden hatte. Sie rechnete damit, dass sich alles im Laufe dieser halben Ewigkeit bis zur Unkenntlichkeit verändert haben konnte, also versuchte sie, die Landschaft nach dem Flusslauf zu bestimmen, es hatte sich ihr ins Gedächtnis gegraben, dass dies der erste große Mäander oberhalb der Stadt war. Sie bat Peppino, langsam zu fahren, somit winkten ihnen ein paar Frauen herzlich zu in der Annahme, in dem Luxusmietwagen ein jungvermähltes Paar zu grüßen. Olmütz war seit ihren Zeiten so gewachsen, dass sie fast befürchtete, die Regulierung des Flusses könne auch diese Ecke verschlungen haben, doch direkt vor dem Mäander schien die Stadt wie abgeschnitten, dann schloss sich nur noch Auwald an. Bald tauchte eine Wiese auf, die steil zu einer kleinen Lagune hin abfiel. So als würden sie direkt in die Vergangenheit hineinfahren, erblickte sie ein kleines bezopftes Mädchen, das auf der Welt kein ihr nahestehendes Geschöpf mehr hatte, doch das, was ihm gerade von allem am meisten fehlte, das war ein Grab.
Sie erschien ihm wie ausgewechselt. Wenngleich sie vollauf damit beschäftigt war, irgendein Ziel zu suchen, war sie nett, fast herzlich, sie scherzte, er habe sich am Abend vorher offensichtlich den Ruf eines Parkettlöwen ertanzt, weshalb sich alle Lokalhyänen auf ihn gestürzt hätten. Seinen Dank lehnte sie mit der schmeichelhaften Begründung ab, sie könne es sich nicht erlauben, ihr einen Tänzer zum Krüppel zu schlagen, der es mit den Profis aus Rom aufnehmen konnte. Dann aber schaute sie mehr und mehr auf den Weg, und er störte sie nicht, die nächtliche Eitelkeit wich der Erleichterung, nicht das Gesicht verloren zu haben und seine einträgliche Reise trotzdem fortsetzen zu können, glich ihr Verhalten doch einer Entschuldigung. Wie sie heute zu ihm sprach, bestätigte jedoch die Vermutung der Truppe, dass sie mit ihm andere Pläne habe, als nur Tangofiguren zu tanzen. Als sie halten ließ und ausstieg, blieb er zuerst sitzen, doch sie lief bis an den Fluss hinunter, und so ging er ihr hinterher; der parkende Rolls-Royce nahm sich mit dem reglosen Chauffeur an der geöffneten Tür oben auf dem Waldhintergrund wie ein Werbeplakat aus.
Nach der Erfahrung des Vortags dachte Leo nicht daran, Fragen zu stellen, wenig später erhielt er doch eine Erklärung: »Hier sind wir immer baden gegangen ...«
Er schaute zum anderen Ufer hinüber, wo schon die fürchterliche Vorstadtbebauung begann. »Warum gerade hier ...?«
»Dort war der gleiche Auwald.« Sie hob einen flachen Stein auf und warf ihn so geschickt, dass er mehrmals von der Oberfläche abprallte, ehe er versank.
»Das hat mir mein Stiefvater, aber eigentlich echter Vater beigebracht.« Sie erinnerte sich: »Und er hat mir für seine Fleischmarken die ersten Biskuits besorgt!«
»Was für Marken?«
»Lebensmittelmarken. Im Krieg gab es alles auf Zuteilung. Und Juden bekamen nur die Hälfte, also musste er zwei dafür geben.«
»Da hast du so gern genascht?«
»Genascht? Ach ... Biskuits sind Ballettschuhe. Und was du wahrscheinlich wirklich nicht wissen kannst: er hat sich von meiner Mutter nur scheiden lassen, weil sonst wir beide sein Schicksal geteilt hätten.«
Er wagte erneut zu fragen: »Welches?«
»Wir fahren hin«, sagte sie kurz angebunden und bückte sich erneut, diesmal aber legte sie die Hand aufs Wasser, so als würde sie es streicheln. »Und hier ist meine Mutter gegangen.«
Er erstarrte. »Hier ist sie ertrunken??«
»Nein, fortgeschwommen ...«
»Wie, fortgeschwommen ...?«
»Sie hat sich immer nach dem Meer gesehnt ... und weil wir kein Grab hatten, habe ich ihre Urne hier ausgeschüttet, damit sie endlich hinkommt ... Jetzt habe ich sie möglicherweise in Rom ...«
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