Dienstag, 6. 6. 1944, frühmorgens
Er öffnet die Tür des Herrenhauses und ist wieder in der Landschaft seiner Kindheit. So sehr erinnert ihn hier alles an die Schule in Ingolstadt, wo sein Vater in einem der Objekte der ehemaligen Festung eine Dienstwohnung hatte. Um Karl Kleinburgers Seele kämpften, so war er sich später sicher, bereits von der Wiege an Muse und Mars.
Der Vater, ein Schulmeister, der Nietzsche verehrte und für die örtliche Zeitung nationale Gedichte verfaßte, erzog seinen einzigen Sohn im selben Geist; er schrieb ihm wundersame Fähigkeiten zu, da sein Stammhalter genau in der ersten Minute des ersten Tages eines neuen Jahrhunderts das Licht der Welt erblickt hatte. Karl junior begann, seine Hoffnungen zu erfüllen, als er mit nur sechzehn bei einem Schülerwettbewerb den ersten Preis für das beste patriotische Poem gewann.
Als der Sohn ein Jahr später zu den Waffen gerufen wurde, meldete sich trotz verzweifelter Bitten seiner Frau auch der Vater als Freiwilliger, und weil er dies mit einer öffentlichen Erklärung tat, um die jüngeren, noch nicht dienstpflichtigen Jahrgänge an seiner Schule für die große Sache zu begeistern, entschied die Behörde, seinem Gesuch stattzugeben. Während der Sohn eine ordentliche Grundausbildung hinter sich brachte, wurden die freiwilligen älteren Reservisten aus dem Zug heraus in den wieder ausgebrochenen Vulkan von Verdun geworfen. Eine Ironie des Schicksals ließ den Vater bei seinem ersten Einsatz fallen, wonach Karl der Jüngere, als einziger Versorger der plötzlich schwer erkrankten Mutter und eines sechsjährigen Bruders, nach dem geltenden Gesetz vorerst vom Dienst freigestellt wurde.
Trotzdem mußten sie die Wohnung schleunigst für den neuen Schuldirektor freimachen, und in einem zerfallenden Staat kümmerte sich um das Schicksal einer von Millionen Witwen niemand. Sie und den jüngeren Sohn raffte barmherzig die Spanische Grippe dahin. Der von Amts wegen weitergeführte Ernährer mit Kriegsabitur schuftete bei Krauss-Maffei im Lokomotivwerk und war kurz vor dem Ende seiner Kräfte, als sich endlich Vaters Münchener Verwandte seiner annahmen. Karl fing in einer Druckerei an, wo der Onkel als Setzer arbeitete, und bestätigte zunächst die Vorgabe der Musen, als er sich bald zum Metteur hinaufarbeitete; allerdings war ihm Mars entschieden behilflich gewesen, der inzwischen an der Front seine Vorgänger verschlungen hatte.
In den Nachkriegswirren hatten sich seine wichtigsten Charaktereigenschaften voll bewährt: Zähigkeit und Besonnenheit. Er widerstand auch den verlockendsten Versprechungen und blieb in der Branche, die von allen Politikern umworben war, weil sie die Schwarze Kunst richtig als einzigartiges Tor zu den Massen verstanden, einer der wenigen weißen Raben, die sich ihre Unabhängigkeit bewahrten und sich nur ihrem Handwerk widmeten. Für den Betrieb war er ein wahrer Schatz und wurde bald Faktor, da er sich auch mit Hitzköpfen Rat wußte. Eine Karriere stand ihm bevor. Er hörte auf, Verse zu drechseln und zu publizieren, als er gerade über seiner Arbeit, beim Setzen von Versen, begriff, daß er mit einem wirklichen Dichter nicht konkurrieren konnte. Doch die Gedanken und Gefühle, vom Vater ererbt und mit dessen Blut besiegelt, wollte er sich für eine Sache aufsparen, die ihrer würdig wäre.
Die erweckte ein einfacher Frontsoldat in ihm, der in überfüllten Sälen, inmitten des Geschwafels selbsternannter Demokraten Worte zu finden verstand, die dem Chaos Ordnung gaben. Am Marsch zur Feldherrnhalle im November 1923 beteiligte sich Karl nicht – er mußte die Schicht eines erkrankten Kollegen anführen –, stellte sich aber unmittelbar nach dessen tragischem Ausgang für alles zur Verfügung, was die Besiegten benötigten. Der intelligente, umsichtige und absolut zuverlässige Bursche, in der politischen Szene unbekannt und ohne jeden Eintrag in den Polizeiakten, war für die Bewegung, die jetzt im Zerfallen war, Gold wert. Der Herrgott, an den er noch glaubte, belohnte ihn mit Gertrud; sie verliebte sich auch in seine Ideale.
Der Dienst, den beide Kleinburgers ihrem Führer Adolf Hitler und seinen verfolgten Anhängern ebenso unauffällig wie unschätzbar leisteten, währte viele Jahre. Abwechselnd und gleichzeitig waren sie Boten, gewährten gesuchten Parteigenossen Unterschlupf, versteckten verbotene Drucksachen und Waffen. Belohnung war gelegentlich ein Wort des Dankes – die Geldquellen waren längst versiegt: Wer wollte schon eine Handvoll Abenteurer ohne Chance und ohne Zukunft unterstützen. Die Druckereien waren inzwischen politisch fest in der Hand von Sozialdemokraten und Kommunisten. Die Betriebsleitung hatte Karl gebeten, Mitglied einer der beiden Parteien zu werden, gleichviel welcher, nur damit er in seiner Funktion verbleiben konnte. Auch die Bewegung riet, es zum Schein zu tun. Das lehnte er ab, weil er seiner Überzeugung nach dazu nicht fähig war. Er wußte zu schweigen, nicht jedoch zu lügen. Beim nächsten Konflikt zog er es vor zu kündigen.
Er hielt sich lieber mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, und Gertrud half ihm tapfer dabei. Als aber Christine geboren wurde, konnten sie nicht länger von der Hand in den Mund leben. Sechsundzwanzigjährig meldete Karl sich zur Reichswehr, die Berufsunteroffiziere suchte, und wurde angenommen. Mehr als der Heldentod seines Vaters sprach für den Anwärter, daß er politisch ein unbeschriebenes Blatt war. Für das Heer, das in einem von revolutionären Wirren geschüttelten Land über den Parteien stehen mußte, war er einer Erscheinung vergleichbar, einer sechsundzwanzigjährigen Jungfrau.
Politische Diskussionen gehörten nicht zum soldatischen Handwerk, und Karls Ansicht von der Notwendigkeit einer Wiedergutmachung der Schmach von Versailles unterschied sich im übrigen nicht von der Meinung der meisten Berufssoldaten. Auch wenn einer seiner Vorgesetzten ahnen sollte, daß mit Kleinburger ein gläubiger Anhänger Hitlers in das Berufsheer gelangt war, überging er das nachsichtig als die unschuldige Marotte eines vorbildlichen Unteroffiziers.
Seine Überlegenheit innerhalb des Vereins stupider Schreihälse von Ausbildern konnte nicht verborgen bleiben. Und als man nachträglich feststellte, daß er Abitur hatte – diese Rubrik fehlte im Fragebogen der Unteroffiziersaspiranten –, schlug man ihn augenblicklich für die Offizierslaufbahn vor.
Nachdem die anhaltende Torheit der Weltmächte, die nicht bereit waren, das Diktat von Versailles zu revidieren, und die Lawine der Weltwirtschaftskrise Adolf Hitler mit atemberaubendem Tempo zur Macht emporgetragen hatten, enttarnte die Bewegung ihre Maulwürfe, um ihren Einfluß im Staatsapparat zu stabilisieren. Die plötzliche Erkenntnis, daß Oberleutnant Kleinburger, bereits Adjutant des Stadtkommandanten von Berlin, ein Nazi war, erfüllte die Stabsoffiziere mit Ekel und Grauen. Der Reichstagsbrand hatte bereits den letzten Kampf entfesselt, der mit unnachsichtiger Vergeltung gegenüber den genauso unbarmherzigen politischen Gegnern von gestern einherging.
Gerade als der bis dahin nazifeindliche Stadtkommandant und sein Stellvertreter beschlossen, daß sie, ausschließlich der Soldatenehre verpflichtet, zuerst den Verräter und dann sich selbst erschießen würden, trat er zu ihnen, erwies ihnen feierlich die Ehrenbezeigung und übermittelte den Dank des Führers für ihre Treue zu Volk und Reich. Sie hatten der Aufforderung falscher Demokraten nicht Folge geleistet, das Rad der deutschen Geschichte mit Waffengewalt zurückzudrehen. Dann bat er gehorsamst, sich entfernen und seine bisherigen Aufgaben weiter erfüllen zu dürfen.
Dabei blieb es nicht lange, die Beförderungen ließen nicht auf sich warten, obwohl er nie darum nachgesucht hatte. Auch wenn es sich bald herumsprach, daß sein Parteibuch eine dreistellige Nummer hatte – bezeichnend war, daß man es ihm per Post geschickt hatte, weil er nie einer Ortsgruppe der NSDAP angehörte –, war ihm mit der Zeit der Ruf eines «anständigen Nazis» geblieben. Wahrscheinlich deshalb erlangte er später nie den Rang eines Standartenführers, der ihm längst zugestanden hätte.
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