Nahm er jedoch die geringste Unstimmigkeit wahr – und als ihm aufging, daß sein Stellvertreter Grube zu den unzuverlässigen Zynikern gehörte, überprüfte er die Todesurteile persönlich –, legte er kompromißlos gegen die Exekution sein Veto ein. Der Chef der Prager Gestapo, dem zu Ohren kam, daß eine kommunistische Agitatorin nur deswegen nicht hingerichtet worden war, weil sie in den Begleitpapieren irrtümlich einen Tag älter als in der Urteilsausfertigung angegeben war, kam höchstpersönlich angereist, um diesem beschissenen Bürokraten einzuheizen. Er fand heraus, daß seine Leute eine andere Person, eine Gemüsefrau und Konfidentin, zum Schein wegen geringfügiger Schiebereien eingesperrt, vor die Gewehrläufe geschickt hatten, und konnte sich bei dem Festungskommandanten gar nicht genug entschuldigen.
Kleinburger hatte gleich in den ersten drei Tagen seiner hiesigen Tätigkeit nach und nach allen drei Wachmannschaften zu verstehen gegeben, was er bedingungslos verlangte. Unter anderen Selbstverständlichkeiten auch die strengste Einhaltung der Gefängnisordnung seitens des Wachpersonals. Alle drei Ansprachen beendete er mit denselben Worten.
«Offiziere, Unteroffiziere, Männer der SS! In seinem Werk ‹Mein Kampf› hat unser Führer klar und für jeden verständlich dargelegt, welche Eigenschaften ein deutscher Mann besitzen muß, damit seine Rasse Anspruch auf Weltherrschaft hat. Die harten Kriegsjahre sind eine Feuerprobe, die alles verbrennen soll, was Plutokraten und Judenbolschewisten in die deutsche Seele gesät haben. Unser Volk muß die Verkörperung der unbesiegbaren Kraft werden. Ihr untrennbarer Bestandteil ist auch die Gesetzlichkeit. Ein Herr bestraft seinen Hund streng, aber gerecht, will er dessen Ergebenheit oder mindestens seine treuen Dienste nicht verlieren. Die hier festgesetzten Personen, ob in Schutzhaft genommen oder zur höchsten Strafe verurteilt, auf deren Bestätigung und Vollstreckung sie hier warten, haben die deutsche Strenge bereits kennengelernt. Aus unserem Verhalten ihnen gegenüber müssen sie begreifen, daß sie sich einer neuen Zivilisation barbarisch widersetzt haben, die wir hier verkörpern. Soldaten des Führers! Nehmt meine Worte nicht auf die leichte Schulter. Ich sage das ein für allemal, denn ich bin es nicht gewohnt, mich zu wiederholen, und vor allem: Wer die Ideen des Führers jetzt nicht verstanden hat, der wird sie nie verstehen können. Die Folgen hat sich dann jeder selbst zuzuschreiben!»
Die Männer der Wachtruppe hörten eine solche Rede zum ersten Mal. Dafür hatten sie schon mehr als ein Großmaul erlebt, das mit ähnlichen Phrasen zu verdecken suchte, daß es weit hinten in der Etappe, mit allen ihren Annehmlichkeiten, Privilegien und Vorzügen, überleben durfte. Deshalb machten sie unbeirrt weiter. Für die meisten von ihnen waren die Gefangenen nur rechtloses Vieh, an dem sie ihre Wut und Ängste auslassen konnten, die ihnen die Meldungen von der Front, die Briefe aus dem zerbombten Reich oder aber die Verluste im Casino einjagten. Ein paar Sadisten befriedigten hier ihre perversen Gelüste.
Am siebten Tag nach Antritt des neuen Kommandanten erhielten ein Offizier, fünf Unteroffiziere und elf Männer die Anweisung, ihre Siebensachen zusammenzupacken und sich beim Ersatztruppenteil der Waffen-SS in Aussig an der Elbe zu melden. Was das bedeutete, wußten sie, und auch, daß über die meisten von ihnen, ehe ihre eventuelle Beschwerde verhandelt würde, bereits Gras gewachsen war. Fluchen half nicht, sie konnten nur beten, falls sie es noch konnten. Als Kleinburger am achten Tag unterwegs zu seinem Dienstzimmer war, wußte er, daß zumindest in seiner kleinen Garnison deutsche Ordnung herrschte.
Jetzt geht er wieder die Lindenallee entlang, und wie immer, seit er nicht mehr laufen kann, atmet er in tiefen Zügen frische Luft ein, die heute nach welkem Heu duftet. Erstaunlicherweise trübten keine Gewissensbisse die Ankunft der Tochter, und die zärtliche Nachtstunde mit Trudl ließ ihn seine Verkrüppelung vergessen. Nicht einmal die Prothesen schmerzen heute, und außerdem freut er sich auf die Überraschung, die Gertrud Punkt acht erleben soll. Als er davon erfahren hatte, wollte er das Vorhaben verbieten, als unerlaubten Mißbrauch der Mannschaft zu Privatzwecken. Er erfuhr jedoch gleich, daß die Festungsfrauen die Abgeltung der Unkosten für die Mitwirkenden ordnungsgemäß beim Regimentsstab in Leideneritz bezahlt hatten, und ließ dann der Sache gern ihren Lauf.
Um so mehr geht ihm das zweite Versprechen im Kopf herum, das er Gertrud vor einer Woche gegeben hatte. Schon der bloße Gedanke an Kolatschek hob ihm jedesmal den Magen. Hielt er, wie er sie bezeichnete, Fanatiker und Zyniker für das größte Unglück der Bewegung, so verkörperte für ihn Kolatschek deren Verderbnis. Er wußte, daß jeder Umsturz auch den moralischen Abschaum hochspült, es berührte ihn jedoch peinlich, daß dieser sich in erster Linie im Sicherheitsdienst breitmachte.
Grundsätzlich war er für ein Europa ohne Juden, seit ihm verständlich gemacht worden war, daß sie nach den Worten eines deutschen Historikers, den der Führer oft zitierte, ein «Ferment der Dekomposition» seien – Kleinburger hatte sich diese magische Formel eingeprägt und benutzte sie auch gern –, eine stete Bedrohung der nationalen Gesellschaften, die sie für ihre gewinnsüchtigen Ziele zu gegenseitigem Blutvergießen aufhetzten. Als Einzelne waren die Juden trotzdem für ihn Menschen, denen die zivilisierte Welt so manches verdankte. Deshalb war er mit ihrer Konzentration in einer Art Ost-Israel – ja, und warum nicht gerade im Generalgouvernement? – einverstanden, oder in Galizien, wo sie seit jeher in großen Kommunitäten gelebt hatten.
Die immer wieder auftauchenden Gerüchte, sie würden systematisch ausgerottet, hielt er für zionistische Propaganda. Die sollte dem Reich in den Augen der natürlichen Verbündeten im Westen schaden, die sich – für beide Seiten gleichermaßen tragisch – vorübergehend Sowjetrußland angeschlossen hatten. Um so mehr empörten ihn glaubhafte Nachrichten über die Verhältnisse im Ghetto, das sich in Sicht- und Hörweite der Festung befand. Die mangelhaften hygienischen Verhältnisse, so gut wie keine ärztliche Versorgung – für Kleinburger war es selbstverständlich, daß Menschen, die morgen erschossen werden müssen, nicht noch heute unter Zahnschmerzen leiden sollen!–, die willkürliche Verkürzung der Mindestration, Raub und Gewalt seitens des Wachpersonals und insbesondere die Übergriffe bei den nächtlichen Deportationen hielt er für gesetzwidrig und darum für gefährlich und schädlich.
Er war jedoch soweit Soldat, sich in fremde Kompetenzen nicht einzumischen. Er wartete also auf die Kommission, die hier früher oder später erscheinen mußte, und konzentrierte sich lieber darauf, daß wenigstens seine Festung in jeder Hinsicht ein Gegenpol zu Kolatscheks Ghetto war. Diesen Kameraden von gegenüber, der zum Glück einen niedrigeren Rang hatte, mied er, wo er nur konnte. Den früher gemeinsam gefeierten Saufgelagen beider Kommandanturen setzte er bei seinem Dienstantritt mit dem Hinweis ein Ende, sie schwächten den Sicherheitsgrad beider Einheiten. Die Folgen seiner Verwundung erlaubten es ihm, private Einladungen auszuschlagen, und so begegnete er seinem Kontrahenten nur bei gelegentlichen Lagebesprechungen in Leideneritz, was ihm vollauf genügte.
Kolatschek war ihm vor allem deshalb suspekt, weil er zu jener Gruppe führender Parteigenossen gehörte, die ihn anwiderte. Zu der zählten Feiglinge, die unter gewissen Bedingungen zu gern zu Henkersknechten wurden. Kolatschek war einst österreichischer Sozialist gewesen, der nach dem Bürgerkrieg von 1934 als Schlachthofarbeiter im tschechoslowakischen Exil lebte. Als ihn am 15. März 1939 deutsche Motoren weckten, begann er sich aufzuführen, als hätte er Zeit seines Lebens bloß auf den Führer gewartet. Dem Kampf gegen das Judentum schloß er sich, so wurde erzählt, mit solcher Vehemenz an, daß er sogar alte Kämpfer in den Schatten stellte, bis er es schließlich zum Chef des größten Ghettos im Protektorat gebracht hatte.
Читать дальше