Da sieht sie: Lautlos eilt ein hoher Schatten den Weg vom Becken zum Haus entlang, um den Hals ein Handtuch, um die Lenden eine enge Badehose, deren Farbe mit der sonnengebräunten Haut verschmilzt und für die optische Täuschung sorgte. Auf dem Kopf trägt er seine Mütze, in der Hand die schwarze Uniform und die Stiefel. Hinter der Hausecke rasselt ein Schlüsselbund, eine schwere Tür fällt zu. Sie wohnt mit ihm unter dem selben Dach!
Sie verharrt noch ein paar Minuten. Die Frau kommt nicht. Nun erscheint plötzlich der Mond, unvergleichlich größer und klarer als in Berlin, satt orangenfarben. Zufrieden sieht Christine, daß ihm zum Vollmond noch eine schmale Sichel fehlt, dünn wie Apfelsinenschale. Die hebt er sich zu ihrem Geburtstag auf!
Mit einemmal sind die trüben Gedanken weg. Sie will jetzt nicht mehr lesen und entschließt sich, bei offenem Fenster zu schlafen. Sie legt sich auf die Bettdecke und betrachtet in der hellen Finsternis ihren Körper. Er braucht das Sonnenbad, beschließt sie, hat er erst seine mehlige Blässe verloren, würde er gar nicht so übel aussehen. Als sie die Augen schließt, vernimmt sie leise Töne. Was? Eine Orgel mit «Lili Marleen» ...? Dann glaubt sie, eine Mundharmonika zu hören. Mit ihrem letzten Gedanken nimmt sie wahr, daß sie trotz geschlossener Augen lächelt. Bin ich denn etwa glücklich? wundert sie sich. Aber warum ...?
Zur gleichen Zeit
Gertrud zieht sich aus. Die schweren Mahagonimöbel in diesem steinernen Haus mit den kleinen Fenstern engen auch sie ein. Schon damals, als sie ihnen samt der Wohnung am Anhalter Bahnhof zugeteilt wurden, hatte sie Karl vorgeschlagen, das Zeug zu verkaufen und sich dafür eine modernere Einrichtung aus Metall anzuschaffen. Ihr überkorrekter Gatte jedoch sah in dem Bestand Reichseigentum, das ihm nur von Dienst wegen zur Verfügung gestellt wurde. Dieses Argument benutzte dann sie gegen ihn, als sie feststellte, daß ihre künftige Wohnung in dieser Festung an eine Mannschaftsunterkunft oder eine Sammelstelle leerer Flaschen erinnerte. Der Vorgänger ihres Mannes hatte sich in Trunkenheit auf der Treppe das Genick gebrochen.
Sie ahnte, daß Karli hierher kommandiert worden war, um die Belegschaft eines Augiasstalls in eine vorbildliche Eliteeinheit des Führers zu verwandeln, und dabei wollte sie ihm behilflich sein. Das war ihm natürlich gelungen, noch bevor der Lastwagen aus Berlin die Sachen brachte, auf die er gut hätte verzichten können. Bereits in den ersten sieben Tagen, als er Tag und Nacht wie ein Geist in der Küche, der Kantine, den Lagerräumen, in den Zellen und auf den Außenarbeitsstätten der Gefangenen, auf den Wachtürmen sowie in den Schlafstätten von Mannschaft und Unteroffizieren auftauchte und nebenbei von den Wällen aus, selbst unsichtbar, mit dem Feldstecher jede Bewegung in allen Höfen beobachtete, stellte er siebzehn Männer für die Front frei. Am achten Tag hätte auch die strengste Kontrolle nicht die geringste Laschheit feststellen können.
Gertrud, die sich aus eigenem Antrieb um die hier lebenden Frauen zu kümmern begann, erfaßte sofort, daß hier nicht ein leidenschaftliches Verlangen, dem kämpfenden Vaterland nützlich zu sein, die Ursache für raschen Erfolg war, sondern vielmehr reine Angst. Sie versuchte deshalb, auch den Frauen ein paar der kleinen Freuden des Lebens zu vermitteln, die sie mit ihrem Mann genoß. Die ursprüngliche Einrichtung des Herrenhauses, das irgendeiner tschechoslowakischen Militärverwaltung gehörte, war teils verschwunden, teils verkommen. Die Frauen der Berufssoldaten, die zum größten Teil in den Baracken beim Tor wohnten, teilten die tristen Verhältnisse der Männer und verdarben ihnen die ohnehin schon miserable Laune nur noch mehr.
Als die Möbel aus der Berliner Wohnung ankamen, war der Kommandant verblüfft über die Wirkung. Das erste Kaffeekränzchen, zu dem Gertrud alle zwanzig Frauen seiner Untergebenen eingeladen hatte, kam einer Mustermesse gleich. In den nächsten Wochen wurde die Festung Ziel von Militärlastern und Möbelwagen, die heranschafften, was die einstweilig verlassenen Wohnungen in der Heimat hergaben, was Eltern und Verwandte beisteuerten, die Altmöbelhändler und die Wehrmachtslager, wo man billig Sachen aus Kriegsbeute erstehen konnte. Mit den Stücken von zu Hause schien auch familiärer Geist Einzug zu halten. Die Frauen, Staublappen schwingend und Kissen stickend, wie sie es bei Gertrud bewundert hatten, gaben ihren Männern die Hoffnung wieder, ihr grausames Handwerk würde nicht ewig dauern.
Ein Volltreffer war Gertruds Idee mit der Schule. In der Festung lebten zwei Dutzend Kinder zwischen sechs und elf, die erst danach auf Internatsschulen kommen konnten, sofern im Reich noch welche die Bombennächte überstanden. Mit den Sprößlingen der Offiziere und Beamten im nahen Ghetto fuhren sie täglich in die Kreisstadt Leideneritz, wo sich ihrer an die fünfzig in einer Klasse drängelten.
Die erste Dame der Festung wartete nicht ab, bis die zuständige Kommandantur ihren Vorschlag billigte oder eher ablehnte. Als sie von Köpcke, Karlis Fahrer, erfuhr, seine Schwester sei Lehrerin, eine Kriegsbraut, die ihren Mann auf dem Balkan einen Tag früher verloren hatte, als sie ihm in Mannheim durch Ferntrauung verbunden worden war – diesem Schicksalsschlag trotzte sie mit der Entscheidung, die Trauung als vollzogen zu betrachten –, nutzte Gertrud augenblicklich den Umstand, daß seit kurzem auch Familienangehörige Gefallener hier wohnen durften. Und als die Mütter sahen, daß die schwarzgekleidete Kriegswitwe, durchaus imstande, eine anspruchsvolle Einklassenschule zu leiten, außerdem noch Klavier-, Geigen- und Flötenunterricht gab, legten sie gern das Geld für ihren Unterhalt zusammen. Schließlich gab sogar das deutsche Schulamt im Protektorat seine Zustimmung und einen Zuschuß. Daß die Gattin des Kommandanten, deren Tochter in Berlin studierte, all das organisierte und gemeinsam mit ihnen dafür aufkam, steigerte ihre Beliebtheit. So genoß sie in den Augen der Frauen einen Rang, vergleichbar dem ihres Gatten.
Der Kommandant verstand gut, was Gertruds Tätigkeit für seine eigene bedeutete, und ihr war klar, daß er es wußte, auch wenn er ihr kaum einmal anders als mit einem flüchtigen Kopfnicken dankte. Sie fragte nie nach seinem Dienst, das kam für sie als Frau eines deutschen Offiziers gar nicht in Frage. Von selbst erwähnte er seine Aufgaben nur, wenn sie entscheidend Interessen der Familie berührten. Dieses Mal aber erschöpften sie ihn zusehends, denn er hatte bei jedem Schritt und jeder Geste mit den Folgen seiner Verstümmelung zu kämpfen.
Nicht einmal jetzt, als er sich neben sie ins breite Ehebett legt, erlaubt er ihr, ihm die beiden Prothesen abzunehmen. Er erledigt das, den Rücken ihr zugewandt, wie jeden Abend so geschickt selbst, daß sie auch nach einem Jahr deren Mechanismus noch nicht begriff. Auch dieser Rücksichtnahme wegen liebt sie ihn. Zugleich ist das aber der Ausdruck seiner Unerbittlichkeit, die er sich und anderen abverlangt, und Gertrud wird manchmal ganz bang bei dem Gedanken, diese Härte könnte jemals auch sie treffen. Zum Glück beweist ihr aber jede neue schweigende Umarmung, wie leidenschaftlich er sie begehrt.
Heute ist es genau eine Woche her, daß sie den Mut faßte, ihn zu bitten, einen Weg zu finden, wie man Christine aus dem jetzt nahezu täglich bombardierten Berlin hierherbekommen könnte. Er beugte sich gerade zum linken Schenkel hinab, als er ihre Frage mit einer anderen beantwortete.
«Wann ist Schulschluß?»
«In drei Wochen ...»
«Wie kann sie dann früher weg?»
«Ich hab’ dir doch ihren Brief vorgelesen. Man hat sie bereits benotet, vorsichtshalber ...»
«Aha ... Warum läßt man sie dann nicht von sich aus heim?»
«Angeblich, um kein schlechtes Beispiel zu geben. Deshalb hält man die Kinder dort, obwohl sie so gut wie keinen Unterricht mehr haben. Begreifst du das?»
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