«Wie kommst du darauf?» staunte er.
«Die Kommunisten haben sich, damit alle Menschen gleich werden, ausgedacht, daß einige von ihnen eine Avantgarde bilden müssen, die führende Kraft und wie sich das nennt. So haben sie sich an ihre Vorgänger mit Kasten und Titeln angepaßt. Auch ihr Katholiken habt was Ähnliches in der Kirche eingeführt, doch als Christen bekennt ihr bis heute, daß die Menschen wenigstens vor Gott gleich sind. Das solltest du auch hier gelten lassen.»
«Ich habe nicht geahnt», er mußte lächeln, «daß du mir mal das Christentum predigen wirst, dazu noch in einer Spielbank!»
«Ich predige dir gar nichts, ich bitte dich nur, deine Welt nicht nur auf die Kirche einzuengen, wohin ich bald mit dir gemeinsam zu gehen beginne, jawohl!» sie reagierte auf seine Verwunderung, «doch komm auch du mit, wo es mich freut. Das Leben hat eine Unmenge Gesichter, stammen sie für dich nicht alle von Gott? Schau dir die Leute an, bis auf ein paar leidenschaftliche Spieler alles nur einfache Touristen und Kurgäste, für einen Augenblick steigen sie aus dem Alltagstrott aus, um ihr Schicksal zu prüfen, ob sie nun an Gott oder den Zufall glauben...» bevor sie zu Ende war, erschrak sie: Gott gebe, daß er nicht fragt, woher sie das alles weiß!
«Woher weißt du das alles?» fragte er logisch.
Die fromme Lüge diente ihr bis in das vorige Jahr, immer wenn die nichtigen Wahrheiten ihre Arbeit und Beziehungen unnötig bedrohten; seitdem sie Václav kennengelernt hatte, redete sie sich ein, die erste Lüge würde seinen Gott bewegen, ihr ihn wieder zu nehmen.
«Ich war hier schon mal», gab sie zu.
Möge er jetzt wenigstens nicht fragen, mit wem! In der Nacht, in der sie die gemeinsame Flucht vereinbart hatten, zählte sie ihm ihre Lieben auf, damit er wußte, daß sie vor ihm alle ihre Geheimnisse preisgibt; Johann Christopher hat sie dabei ehrlich vergessen. Daß sie mit ihm nicht schlief, war kein Maßstab, es war geistige Überlegenheit, die Václav deprimierte, und Lydia wollte nicht, daß er fürchtete, hier würde neben all dem Unbekannten noch ein Rivale lauern. So entschloß sie sich, es zu verheimlichen.
«Entschuldige», sagte er, «das letzte, was ich heute und irgendwann will, ist, dir die Freude zu verderben. Mach dir meinetwegen keine Gedanken, ich werde mich an alles gewöhnen, was du gern hast!»
«Ahooj, Leute«, lärmte Bobina, »war einer von euch hier schon auf dem Häuschen? Das ist ein Jux, da braucht man Hochschule, wenn man auf den Topf will!»
«Herrschaften!» rief der Zauberer und klickerte mit den Jetons, als schüttle er Würfel, «hereinspaziert, mir nach, Fortuna entgegen!»
Bislang haben sie keinen der von Menschentrauben umlagerten Roulettetische frei erblickt. Der Zauberer schritt aber nun mit nachtwandlerischer Sicherheit auf den drittgelegenen zu und beschlagnahmte als erster drei soeben frei gewordene Stühle.
«Hierher, meine Damen!» er plazierte höflich Lydia links und Bobina rechts neben sich, «der Herr Václav stellt sich dahinter auf als Schmiere, daß uns niemand den Haufen Geld klaut, den wir jetzt gewinnen!»
Der Gärtner und die Verkäuferin sahen zum erstenmal ein echtes Roulette.
«Zunächst beobachten», ermahnte sie der Anführer, die Jetons behielt er weiter in der Hand, «und dann erst mich fragen, wie wir diese Bank zur Ader lassen werden!»
Er gönnte es ihnen drei Runden lang, sich an das Milieu und das Spiel zu gewöhnen. Der Gärtner bemühte sich, wie er versprochen hatte, ein Verhältnis zu alldem zu finden, doch die Zeit reichte nicht einmal aus, die Spielregeln zu begreifen. Bobina dagegen hatte gleich blitzartig erkannt, daß man hier hauptsächlich auf Nummern und ihre Gruppen setzt. Sie staunte, wie genau zwei andere Jungs im Schwarzen mit langstieligen Harken Türme von verschiedenfarbigen Ringeln zusammenfegten und den Spielern zuschoben, viel öfter jedoch zu sich, wo sie sie blitzschnell zu den selben Farben in der Bank ordneten. Dann entdeckte sie einen dritten, der auf einem erhöhten Sessel, das Gesicht über der ovalen Lampe im Halbschatten, offensichtlich zu beobachten hatte, daß nicht geschwindelt wird. Bobina kam es vor, als hätte er ihr zugezwinkert. Aha! diese Art Aufsicht kennen wir von daheim.
Lydia war aufgeregt wie schon damals. Als sie Christopher dazu zwang, sein Wahnsinnsspiel aufzugeben, tat sie es auch zu ihrem eigenen Wohl. Obwohl sie lebenslang eine Gefangene ihrer Disziplin war, von der sie mehr als von Notenlinien zusammengeschnürt war, verspürte sie beim Roulette, wie leicht sie selbst der Leidenschaft verfallen würde, die der holpernde Lauf der kleinen Kugel erweckte. Gerade jetzt hatte sie es durch ihre Tat bestätigt: Sie hatte das Sichere für das Unsichere verworfen, gab sich einer unbekannten Zukunft an der Seite eines unbekannten Menschen preis.
Ich bin eine Spielerin, gestand sie sich, eine Hazardeuse, und am Ende werde ich alles verspielen. Erschreckt suchte sie hinter sich nach seiner Hand, drückte sie fest zu und ließ nicht locker, als wäre diese Hand jener feste Punkt, an dem ihr Leben hängt.
Der Zauberer gab jedem fünf Jetons zu zwanzig. Václav überließ sie ihr, und Lydia, ohne zu zögern, setzte alles auf die Zwei.
«Auf uns beide», flüsterte sie ihm nach hinten zu, «alles oder nichts!»
«Wieviel kann man da rauskriegen?» fragte Bobina, als die Kugel wieder losrollte.
«Mal fünfunddreißig», rechnete der Zauberer, «macht siebentausend.»
«Nee, wohin soll ich es pflastern?»
«Der Spielgott liebt keine Kiebitze, beim Roulette und im Tod steht jeder allein. Im Unterschied zur Liebe, wo es ab zwei losgeht.»
Sie schaute sich den schwarzen Aufseher an. Er fixierte sie weiter. Sie setzte für zwanzig auf Nummern, die sie jahrelang vergeblich im Lotto versucht hatte, sieben, elf, dreizehn, zweiundzwanzig, dreiunddreißig. Sie schaute schnell zu dem Kerl auf. Zweimal gezwinkert! freute sie sich, also in Butter! Es geht hier wie zu Hause zu, man muß nur den Richtigen picken. Wieviel wird er dafür wollen, der Schlaumeier, oder vielleicht, was? Das geb’ ich lieber, er sieht ganz passabel aus...
Es fiel die Drei.
Was soll das? Sauer schaute sie auf den Ratgeber. Er zwinkerte dreimal, und sie erkannte zu spät, er hat nur so einen Tick.
«Siehst du», sagte Lydia zu Václav, «wir haben Glück in der Liebe.»
«Oder es montiert sich ein Dritter dazwischen», lachte der Zauberer.
Das erinnerte beide daran, daß Věra in Budweis inzwischen alles weiß und gemeinsam mit dem Polizeipapa fieberhaft überlegt, wie ihnen hier einzuheizen wäre. Sie hörten auf, daran zu denken, als der Zauberer zehn Ringel mit der Ziffer 100 auf dem schwarzen Viereck absetzte.
«Ach, du meine Güte», sagte die Verkäuferin verblüfft, «wohin schieben Sie das alles?»
«Auf die Farbe, auf Schwarz.»
«Und soviel? Was, wenn Rot fällt?»
«Wie könnte es», wunderte er sich flunkernd, «wenn ich auf Schwarz stehe!»
Die Kugel lief in der Schale immer langsamer, bis sie in das schwarze Fach fiel.
«Nee!» rief das Mädchen begeistert, «wieviel hat das gebracht?»
«Das Zweifache.»
Die Harken wischten die meisten Jetons anderer Spieler für die Bank zusammen. Zu seinem Säulchen schoben sie aber ein weiteres, genau so hoch. Das Roulette drehte sich schon wieder.
«Packen Sie es doch weg», sorgte sich Bobina, «warum nehmen Sie es nicht?»
«Weil ich weiter das Doppelte will.»
Bald darauf hatte er es und ließ bereits vier Säulchen da stehen.
«Na, so was!» Bobina kaute an den Nägeln, «wieviel wäre das bei uns?»
«Rechne zwei Kronen für einen Schilling und multiplizier das gleich mit zwei.»
Er irrte nicht. Als die Kugel richtig einfiel, hat er in Jetons achttausend gehabt, was also sechzehntausend Kronen ausmachte. Das bleibt mir zu Hause nach allen Abzügen für ein Jahr! Es fuchste sie, als wäre sie immer noch dort; laut ängstigte sie sich.
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