Sie litt um so mehr, weil da immer der arme Petřík herumstand. So sagte sie fast aggressiv.
«Und dann?»
«Was dann...»
«Dann wird was? Schon morgen abend wird es mit dir nicht auszuhalten sein! Bitte...» sie kam seiner Antwort zuvor, «erbarme dich unser und fang nicht wieder an!»
«Gott!» sagte er wieder dreimal, «Gott, Gott, glaubst du mir wenigstens, daß ich dich liebe?»
«Ja! Aber jetzt sollst du vor allem Petřík lieben, damit er es schnell hinter sich hat!»
Als hätte er sie nicht gehört, wiederholte er gequält.
«Ich liebe dich! Ich liebe dich, Dora!»
Sie nickte, mehr schaffte sie nicht.
«Was auch immer geschehen ist, ich hab’ dich geliebt, nur dich!»
Sie nickte wieder.
«Was ich auf dieser Welt am meisten möchte, ist, dich glücklich zu sehen!»
«Dann komm...!»
«Willst du es tatsächlich?»
«Ich will es...»
«Und nicht nur meinetwegen? Bitte, sag es mir!»
«Nicht nur deinetwegen!» sagte sie mit allerletzter Kraft, «auch wegen Petřík und meinetwegen! Wegen uns allen! Komm schon...!»
Sofort beruhigte er sich.
«Nun gut. Also, los!»
Der Mann zeigte ihnen die Richtung und schob in Milans Manteltasche einen Gegenstand, an den sie selbst nicht gedacht hatten: eine große abgewetzte Stablampe.
«Sie ist kräftig und hat eine frische Batterie, sie hält durch, laßt sie gleich hinter dem Tunnel rechts im Gras. Zum Bahnhof sind es dann nur ein paar Schritte. Und nun, guten Übergang!»
Der Pfad führte nach unten, der zunehmende Mond beleuchtete ihn, und so war er mühelos zu gehen. In den Hügeln herrschte Kälte, gut, daß sie tüchtig eingemummt waren. Sie gelangten zum Tunnelportal, weit früher als gedacht, und warteten hinter den Büschen. Die Pause vor dem letzten Akt ihrer Flucht war die erste seit heute früh, in der sie bewußt Luft holen konnten und die Natur vernehmen. Erst jetzt hörte Dora das metallische Brausen der Zikaden und den rohen Schrei eines unbekannten Raubvogels. Verdorrte Gräser schnitten ihr ins Fußgelenk, alles hier war ihr fremd. Sie preßte einen Augenblick den Kopf des Sohnes an ihre Seite.
«Erinnerst du dich an die Kitzlein...?»
«Ja, Mami...»
Es waren nicht einmal vierundzwanzig Stunden vergangen, doch sie kam sich um Jahre älter vor. Sie verspürte die Sehnsucht, die dahinjagende Zeit zum Stehen zu bringen.
«Sobald wir dort sind, Petřík, legen wir uns alle drei zusammen ins Bett, knubbeln uns im Knäulchen zusammen und werden schlafen, schlafen und schlafen. Und wenn wir aufwachen, kauft uns der Vati soo einen großen Berg Eis mit Sahne!»
«Ja, Mami...»
«Komm schon», flüsterte Milan voller Spannung. Seine Omega zeigte eine Minute vor halb elf, in seinem Gehirn schellte es Alarm. Was, wenn sich der Zug verspätet? Jede Sekunde Verspätung zwang sie, die Strecke um einen Schritt schneller zurückzulegen, doch irgendwo lag die natürliche Leistungsgrenze. Gleich danach beruhigte er sich, als in der Tunnelmündung ein unbekannter, geradezu außerirdischer Klang zu vibrieren anfing, der sich plötzlich in das gewöhnliche Rattern von Rädern einer Lokomotive verwandelte, die auch bald erschien.
Sie warteten ab, bis der letzte Waggon mit den roten Schlußlichtern an ihnen vorbeigedonnert war, und der Tunnel verschlang sie.
Bei den ersten Schritten erkannten sie, daß ihnen ein Arm fehlte, der die Lampe halten könnte. Milan wußte sich Rat: Er steckte die Lampe in die Achselhöhle, so daß der Lichtkegel vor seine Füße fiel.
«Haltet euch an mich! Wenn möglich, auf die Schwellen treten! In achteinhalb Kilometern gibt es höchstens zehntausend davon! Okay: Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben...»
Bald meldete er nur noch jede zehnte, später jede hundertste. Die Schwellen lagen ziemlich weit auseinander, er mußte die Schritte lang nehmen, hatte mehr von dem Sauerstoff nötig, der mit aufgewirbeltem, stechendem Staub übersättigt war. Dora und Petřík, das wußte er, konnten nicht in seinem Rhythmus gehen, immer wieder traten sie auf den buckligen Schotter. Doch es war ihre letzte teuer erkaufte Chance, sie waren jung und gesund, wie sie immer behauptete, deshalb hat er sie beide jetzt erbarmungslos vorwärtsgehetzt.
Es war mühseliger, als sie es sich vorgestellt hatte, aber wiederum nicht so schrecklich, wie sie befürchtete. Erleichtert stellte sie fest, daß man es zu den Nischen vorn oder hinten höchstens hundert Meter weit hat. Die Röhre war ganz still, gab nur ihre Schritte wieder. Auch Petřík, den der Vater geschickt dadurch munter machte, indem er ihn anfeuerte wie ein Trainer seinen Athleten, konnte den zweiten Atem schöpfen und marschierte munter voran. In Bodennähe war die Luft für ihn reiner. Erstaunt hörte sie, wie Milan bald fünftausend meldete; weil sie selbst vierundzwanzig Nischen gezählt hatte, hatten sie wohl ziemlich die Hälfte geschafft.
«Wie spät ist es?» rief sie keuchend.
Das hat er ausgenutzt, um die Koffer wieder einmal abzusetzen und den Rücken zu strecken.
«Viertel. Viertel zwölf.»
Das «Bald» dauerte also eine dreiviertel Stunde.
«Die Hälfte?» fragte sie vorsichtig.
«Klar! Es läuft prächtig, nur müssen wir ein bißchen zulegen, aber das ist noch drin, nicht wahr, Petřík. Wie bei der Olympiade. So läuft man Marathon, weißt du? Am Anfang schnell, wie es geht, dann dreht man etwas auf, ab der Wende wird richtig gelaufen, und vor dem Stadion setzt man zum Finish an. Also, leg zu!»
«Ja, Papi.»
Milan hat mit seiner ganzen Last tatsächlich beschleunigt, und Dora hatte viel zu tun, um mit ihm Schritt zu halten. Sie bewunderte Petřík, daß er so gut nachkommen konnte, obwohl seine Beinchen sich viel mehr bewegen mußten. Daß sich bei ihnen alles auf nur zwei Funktionen, Laufen und Tragen, konzentrierte, ermöglichte es ihnen allen offensichtlich, tief in die Reserven zu greifen. Das Lampenlicht tanzte vor ihnen wie ein Riesenfalter, der sie anzuführen schien. So legten sie das dritte Viertel zurück, als Petřík zum erstenmal stolperte. Zweimal fing er sich wieder, beim drittenmal fiel er hin.
«Ist dir was passiert?» erschrak sie.
«Nein...»
Der Falter flog davon.
«Milan! Halt!»
Das Licht, auf sie gerichtet, blendete die ans Dunkel gewöhnten Augen.
«Schnell, schnell«, hörte sie ihn, «nicht stehen, laufen.»
«Petřík kann nicht mehr...!»
«Quatsch! Klar kann er. Wir sind fast da! Petřík, jetzt geht’s um die Goldene, hörst du?»
Das Kind brachte nichts heraus. Dora hatte den rettenden Einfall.
«Falls du jetzt die Mäntel und Schuhe... ich nehme ihn an die Hand...»
«Her damit!»
Doch er konnte die Sachen nicht fassen; dabei stellte er fest, daß sein Hemd total durchnäßt war, das viele Zeug, das er übergezogen hatte, war zu einer Schwitzpackung geworden, in die er einst von seiner Mutter bei jeder Erkrankung gesteckt wurde. Das Gehirn half ihm wieder.
«Kommt nach vorn! Vor mich hin! Du trägst ihn und er die Lampe, ich kann euch besser voranbringen!»
Beim Wechsel reichte er die Stablampe dem Sohn.
«Du darfst sie nicht fallen lassen! Nicht, daß du sie fallen läßt, verstehst du? Oder wir sind im Arsch!»
«Nein, Papi...»
«Also, wir machen weiter! Na, Dora!»
«Ja...»
«Leg zu! Du hältst es aus, der Mensch kann alles, wenn er muß!»
Er hatte recht. Obwohl sie keine besondere Sportlerin war und diesen Wahnsinnslauf nun schon mehr als eine Stunde mitmachte, war sie schweißübergossen noch imstande, das Kind zu tragen und sogar ihre Schritte zu beschleunigen. Nur das Zählen der Nischen gab sie auf, die Zeit blieb für sie stehen und dann vielleicht auch die Bewegung, ihr war, als wäre sie an einem Punkt steckengeblieben, und unter ihr lief der zweifache Stahlstreifen samt Schwellen nach hinten. Dann stolperte auch sie. Ihm gelang es, dicht hinter ihr anzuhalten.
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