«Oder», setzte er fort, in die Schüsse und das Hufgetrappel hinein, »es ging ihm dort tatsächlich so schlecht, daß er eine Nacht unter freiheitlichem Himmel gern in Kauf nimmt.»
«Was...» wollte der Gärtner fragen, doch er verstummte, als er das Beben von Lydias Schultern bemerkte und sie schluchzen hörte.
«Lydia... was ist??»
Für das Mädchen Běla fand hier neben dem Fernsehen noch ein unverständliches Theater statt. Sie hatte keine Ahnung, um was es geht, und Tränen gehörten nicht zu ihrer Natur. Bereits in der Kindheit begriff sie: Was man sich nicht selber nimmt, heult man sich nicht herbei! Und Václav hat bislang bei Lydia keine Träne gesehen. Weinend sah sie noch älter aus, und so zwang sie sich die ganze Zeit, ihm ihren Kummer nicht zu zeigen. Jetzt aber, nach der Anspannung der letzten Monate, löste sich ihre Selbstbeherrschung.
«Liduška, was ist mit dir...?»
Das Geschehen im Fernsehen ging mit einem Filmschnitt in eine leisere Szene am Lagerfeuer über, so daß auch der Wächter das Schluchzen nicht mehr überhören konnte. Er drehte sich wieder um. Er hat hier zu viele Tränen gesehen, als daß sie ihn noch rühren könnten, aber auch wenige Frauen, wie sie eine war. Sie paßte nicht in das ihm vertraute Bild. Er spürte eine Regung, ihr seine Haltung zu erklären.
«Das ist eine Anordnung von Amts wegen, Gnädigste, in der Nacht darf man hier keinen aufnehmen. Dort draußen wußte man das wahrscheinlich nicht. Können Sie nicht im Auto übernachten?»
Als hätte man ihn für sie bestellt, kam in diesem Augenblick ein roter Kleinbus aus der Allee und bog zum verschlossenen Tor ab. Der Fahrer ließ das Fenster runter.
«Leutchen», kreischte draußen Bobina auf, «kommt her! das ist aber ein Volltreffer.»
Auch der Mann hinter dem Steuer erkannte sie und rief begeistert.
«Es lebe Budweis! Aber ohne uns! Kann mir der Alte da aufmachen?»
Verblüfft schaute der Gärtner auf das Fahrzeug, das gestern abend vor ihrem Hotel auf dem Stadtplatz parkte.
«Er hat ihn für siebentausend rausgerückt», rühmte sich der Zauberer vor dem Zeugen seines Erfolgs, «ein Geschenk des Himmels, das auszuschlagen wäre Undankbarkeit gewesen.»
Die Pianistin nahm sich inzwischen zusammen. Jetzt konnte sie den anderen die Lage klarmachen.
«Erst morgen früh um sechs, vorher will man uns nicht reinlassen!»
Was ihr als eine Katastrophe erschien, hörte sich für den Glückspilz wie die Nachricht der Nachrichten an.
«Na denn, worauf wartet ihr noch, Herrschaften? Das muß gefeiert werden!»
Sein klangvoller Auftritt zwang auch den Westernfan, aus seiner Loge herauszukommen.
«Wo hier offen?» verhörte ihn der Mann im Wagen, «aber nix Spelunka, Ia Lokal, und offen bis quattro, compris?»
«In Baden», meldete der Alte gehorsam.
«Weit von hier?»
«Nein... sechs Kilometer... immer geradeaus...»
«Also einsteigen, einsteigen!» er öffnete alle Türen.
Da schau mal! wunderte sich die Verkäuferin, die ihn auf der ganzen Reise nur eines einzigen und zugleich letzten Blickes gewürdigt hatte, der Onkel ist flott...! Sie schickte ihm einen Probeballon hinüber.
«Ich bin blank.»
«Keine Angst», sagte er, was sie auch von ihm erwartete, «heute bin ich dran! Sie mit den Koffern», trieb er ungeduldig das Paar an, «nach hinten, und das Fräulein zu mir, wie heißt du, Kätzchen?»
«Běla, doch man nennt mich Bobina.»
«Na prima, mich hat man Genosse genannt, jetzt bin ich wieder Herr Strniště Josef. Aber für dich immer nur Pepi, Pepíček. Abfahrt!»
Die Nacht roch ihm nach Freiheit, Welt und Geld und jetzt noch nach junger Haut dieses vollbusigen Pflänzchens mit dem sexy Arsch, der ihm schon gestern aufgefallen war. Sie sah nicht so aus, als würde sie sich zieren, wenn er sie mit seiner dicken Brieftasche bekannt machen würde, geschweige denn mit seinem noch immer flinken Josefik.
19. Den selben Tag, 22.33
Die Zeit in der seltsamen Autowerkstatt, die sich zweifellos an der Not der Flüchtlinge mästete, was auch die Großzügigkeit des geheimnisvollen Grenzers erklärte, hatte für Dora den Anstrich des Irrealen. Sie ließ sich einst von Milans Kollegen zu einem Scherz überreden, als er den jungen König Karl IV. spielte: Man legte ihr ein Kostüm an und führte sie in eine riesige Außendekoration hinter den Studios von Barrandov. Der Herrscher sollte sich allein in ein Dorf verirren und dort der Versuchung schöner Dörflerinnen widerstehen. Sie befand sich unter ihnen, und er, nachdem er sie erkannt hatte, verdarb husarenartig die Aufnahme, hob sie geschickt zu sich in den Sattel und ritt mit ihr vom Drehort. Begleitet von Ovationen, die sie zum erstenmal zusammen mit ihm erlebte, lernte sie das Opiat kennen, dem er verfallen war. Es blieb ihr dabei im Gedächtnis haften, daß der Dorfplatz, der so echt ausgesehen hatte, auf der Rückseite nur ein Gewirr von Brettern, Latten und Stützen war.
Seit dem Augenblick, als sie ihre Zustimmung gab, kam es ihr ab und zu vor, als hätte Milan sie in einem anderen Stück in eine ähnlich glaubhafte Dekoration versetzt. Bald aber geriet sie wiederholt in den Zustand von Angst, der um so stärker anwuchs, je näher die Stunde des Aufbruchs rückte. Von dem Tunnel trennte sie zum Glück kein Kilometer, sie haben deutlich bei einigen Zügen das Rattern der Achsen über die Gleisnähte gehört.
Die Koffer und Taschen trugen sie in die Werkstatt und stellten sie unter der schwachen Glühbirne ab, dabei half der Jugoslawe. Dann ging er, und sie konnten ungestört umpacken. Dora wollte Petřík noch einmal in den Škoda setzen, zum Ausschlafen, doch er wehrte sich verzweifelt dagegen, und sie verstand, daß er nicht allein bleiben mochte. Sie versuchte das Unmögliche: aus den bereits sorgfältig ausgesuchten Sachen die nötigsten und wertvollsten herauszuholen. Milan traute sich zu, zwei große Koffer und eine Tasche um den Hals zu tragen, sie übernahm das Köfferchen mit Toiletten- und Wertsachen, den Sack mit Schuhen und beide Bademäntel, ohne die sie sich das Leben in einer Gemeinschaftsschlafstätte nicht vorstellen konnte. Für Petřík blieb der kleine Rucksack, wo sie in Prag heimlich sein Spielzeug unterbrachte und viel wichtigere Sachen dafür zurückließ.
Zu ihrer Erleichterung schien Milan sich wieder zu fangen. Er warf sogar einige seiner Lieblingspullis und -blazer raus, die er sich in Prager Devisenshops gekauft hatte. Er achtete darauf, daß sie nicht zu kurz kam, und ahnte nicht, wie dankbar sie ihm war. Sie griff wie nach einem Strohhalm nach allem, was diesem Risiko Sinn gab. Zum Schluß zogen sie zwei Sweater an und darüber ihre Trenchs. Übrig blieben zwei Taschen und ein Koffer voller aussortierter Textilien, flüchtig aufeinandergehäuft. Oben lag das Kleid, das sie beim «Hamlet» getragen hatte, seit langem hat sie es nicht mehr angehabt, doch es wegzuschmeißen, dazu fand sie den Mut erst jetzt. Er erkannte es.
«Das könnte man doch sicher noch...»
«Komm», sagte sie nachdrücklich, «lassen wir das hier und gehen wir! Wir kaufen uns alles wieder und schöner, wenn wir dort sind, heil und miteinander!»
«Dora», plötzlich sprach er ganz nachgiebig, «wenn du willst, lassen wir es noch.»
Ach, nein! stöhnte sie im stillen, nicht schon wieder! Er kannte sie zu gut, um das nicht zu ahnen, und er gab sich die größte Mühe, sie zu überzeugen.
«Bitte, glaube mir, es ist mein Ernst! Wir packen zusammen und fahren direkt nach Hause, morgen früh sind wir an der Grenze, und dann kann kommen, was will, ich rede die Unseren in Grund und Boden, sie werden doch glauben, daß einer, der soviel spielt und dreht wie ich, kein Ochse ist, um zu wagen, was bislang kein tschechischer Schauspieler je geschafft hat. Los, fahren wir!»
Читать дальше