»Habt ihr dazu Fragen?«, will Christopher wissen.
Ich sehe auf und merke, dass er dabei mich ansieht. Er schenkt mir ein fragendes Lächeln, das mich irritiert, bis mir einfällt, dass er vorhin hinter mir stand. Wahrscheinlich hat er zugehört, als ich Jana von meiner eventuellen Wolfsbegegnung erzählt habe. Ich schüttle leicht den Kopf und auch die anderen scheinen momentan keine Fragen zu haben. Es ist ja auch alles sehr hypothetisch.
»Gut, dann fangen wir mit unserem eigentlichen Programm an!«, befindet Christopher und das tun wir dann auch.
Den Rest der Stunde machen wir da weiter, wo wir das letzte Mal aufgehört haben. Das heißt vor allem Rückruf und Leinenführigkeit. Sputnik ist mit Feuereifer dabei und ich hoffe wirklich, dass das Training bald etwas fruchtet.
Nach dem Training verschwindet Jana schnell, nicht jedoch ohne Hanno und mir zuzurufen, dass wir nächste Woche wieder etwas miteinander unternehmen müssen. Fritz verwickelt unterdessen Christopher in eine weitere Wolfsdiskussion, der Sibylle und Edeltraud lauschen. Hanno und ich winken den vieren zum Abschied zu und machen uns auf den Weg zu unseren Autos.
»Ich würde dich ja fragen, ob du mit mir noch einen Kaffee trinken gehen möchtest, aber ich werde bei meinen Eltern erwartet«, sagt Hanno.
Ich lächle. »Schade. Ich hätte Ja gesagt.«
Hanno seufzt theatralisch. »Streu nur Salz in meine Wunden.«
»Sorry.«
»Schon gut«, meint Hanno gespielt leidend, ehe er schon wieder lacht.
Wir sind inzwischen beim Tor angekommen und ich öffne es. Ich überlasse Hanno den Vortritt, wofür er sich mit einer Verbeugung bedankt. Dann stehen wir auch schon an unseren Autos und sind mal wieder etwas verlegen.
»Dann ist es wohl Zeit, Abschied zu nehmen, hm?«, fragt Hanno und kratzt sich am Bart.
»Ja, so ist es wohl.«
Hanno zieht mich in eine Umarmung und haucht einen Kuss auf meine Wange. »Wann sehen wir uns denn wieder?«
»Hm, diese Woche ist bei mir leider ziemlich voll. Freitag?«
Hanno schiebt mich von sich und sieht mich aus großen Augen an. Den Blick hat er wahrscheinlich von Ernst geklaut. »Noch so lange warten!«
»Dann ist die Vorfreude umso größer«, versuche ich ihn zu beschwichtigen.
»Hmpf. Wie sieht es denn bei dir mittags immer aus? Wir könnten doch mal Mittagessen gehen.«
»Oh, gerne! Das müssten wir aber kurzfristig ausmachen. Ich weiß nie so genau, ob und wann ich Mittagspause habe.«
»Kein Ding. Ich habe immer Mittagspause. Pünktlich.«
»Dann schreiben wir uns?«
»Machen wir. Bleibt es trotzdem auch bei Freitag?«
»Klar.«
»Sehr schön.« Hanno drückt mich noch einmal und wispert: »Ich freu mich schon.«
»Ich mich auch.«
Am nächsten Morgen klingelt mein Handy, während ich gerade meinen Kaffee inhaliere. Noch reichlich verschlafen und desorientiert greife ich danach und wünsche der Person, die mich zu dieser Zeit stört, alles nur erdenklich Üble an den Hals. Ich muss ein paarmal blinzeln, bis ich überhaupt erkennen kann, wer mich da anruft. Regina. Oje.
»Hallo?«, nuschle ich, nachdem ich abgehoben habe.
»Hallo Lukas. Pass auf, es gab wieder eine Wolfsattacke.«
Ich erschrecke mich so sehr über diesen Satz, dass ich mich an meinem Kaffee verschlucke und erbärmlich husten muss. Sofort ist Sputnik bei mir und überprüft, ob alles in Ordnung ist.
»Alles okay?«, will auch Regina besorgt wissen.
»Ja«, japse ich, sobald ich mich wieder beruhigt habe. »Sorry, ich habe mich verschluckt.«
»Okay. Also. Ich will, dass du hinfährst und darüber berichtest.«
»Ähm, okay. Gleich?«
»Nein, du kannst vorher noch in die Redaktion kommen. So schnell werden die Leute von der FVA auch nicht da sein. Es wäre gut, wenn du die gleich dazu befragen kannst, ob es denn sicher ein Wolf war.«
»Ist gut. Dann bis nachher«, sage ich, irritiert davon, dass Regina nicht noch eine Stunde damit warten konnte, mir den Auftrag zu geben.
»Bis nachher«, verabschiedet sich Regina.
Kurz darauf stehe ich erneut vor dem Kadaver eines Schafes und mache Fotos. Der »Tatort« ist dieses Mal eine Wiese, die recht entlegen im Wald liegt. Es ist kühl so früh am Tag und das Gras ist noch feucht. Schön ist es hier, fast schon klischeehaft idyllisch. Hohe Bäume rahmen die Wiese ein, tiefgrün die Nadelbäume, schon rot, golden oder braun verfärbt die wenigen Laubbäume dazwischen. Leuchtend rot ein Strauch mit Beeren, dessen Namen ich nicht weiß. Ein Bach begrenzt die Weide zu einer Seite hin. Das Wasser fließt klar über glatte Steine, die Ufer sind moosbewachsen.
Am Ufer des Bachs liegt das tote Schaf. Dieses Schaf hat sich nicht stranguliert und es wurde auch durch keinen anderen Unfall getötet. Es ist eindeutig, dass es gerissen wurde. Es liegt da, inmitten seines Bluts. Sein Bauch ist aufgerissen, ich sehe seine Eingeweide. Die Zunge hängt ihm aus dem Maul und die Augen sind gequält verdreht. Es ist ein erbärmlicher Anblick.
Ein bisschen liegt der schwere Geruch nach Eisen und Blut in der morgendlichen Waldluft. Und mit ihm Hektik, Stress und Furcht. Die restliche Herde drängt sich verstört an einer Ecke der Weide zusammen. Überall sind Menschen. Der Schäfer und dessen Familie natürlich, aber auch Nadine Weilauer, jemand von der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt und einige andere, die sich auf die eine oder andere Art betroffen wähnen.
Ich schieße ein paar Fotos von dem toten Schaf und entscheide mich dafür, nicht zu nahe heranzuzoomen. Auf billigen Splatter kann ich verzichten. Stattdessen achte ich darauf, dass der Bachlauf gut zu sehen ist. Durch den Bach ist das Raubtier gekommen – was auch immer es war. Natürlich liegt wieder das Wort »Wolf« in der Luft, aber da ich noch nicht mit den Fachleuten gesprochen habe, mahne ich mich dazu, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.
Nachdem ich die Fotos gemacht habe, gehe ich zu Hans Binninger, dem Schäfer, der gerade in ein hitziges Gespräch mit ein paar Leuten verwickelt ist.
»Entschuldigen Sie bitte«, sage ich. »Lukas Feuerbach von der Schwarzwald-Presse. Dürfte ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«
»Natürlich«, sagt der drahtige Mann und wendet sich mir zu.
»Danke. Ist es in Ordnung, wenn ich unser Gespräch aufnehme?«
Binninger nickt und ich zücke mein Diktiergerät, das ich auch gleich einschalte.
»Können Sie mir erzählen, wie Sie das tote Schaf gefunden haben?«
»Um sieben bin ich hergekommen, um nach den Schafen zu sehen. Mir ist sofort aufgefallen, dass etwas nicht stimmt. Die Herde war ganz unruhig, richtig panisch. Schauen Sie sich das an, die haben sich ja immer noch nicht beruhigt. Ich bin dann die Weide abgegangen und da habe ich gleich gesehen, was passiert ist. Das Schaf lag da, ganz zerfetzt und zerfleischt.«
»Wie fühlen Sie sich denn jetzt?«
»Na, wie werde ich mich schon fühlen? Wütend bin ich natürlich! Da hat sich ein Wolf auf meine Weide geschlichen und hat unter meinen Schafen gewütet! Haben Sie eine Ahnung, was das für mich bedeutet? Der kann doch jederzeit wiederkommen. Jetzt muss ich die Schafe von hier wegbringen oder in einen neuen Zaun investieren.«
»Für den Zaun können Sie Förderung beantragen, Herr Binninger«, flötet Nadine Weilauer, die wohl schon mit der Reaktion des Schäfers rechnet: einem verächtlichen Augenrollen und einem genervten »Pah!«, dem ein recht langer Monolog über die Bedrohung Wolf folgt.
Ich höre mir das eine Weile an, bis ich mich Frau Weilauer zuwende. »Weiß man denn schon, welches Tier das war?«
»Am besten, Sie fragen bei Matthias Thrietzke nach«, erwidert sie und deutet auf den Herrn von der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt.
»Mache ich, danke.«
Ich überquere die Weide erneut und gehe zurück zu dem Kadaver. Neben dem toten Schaf kniet Matthias Thrietzke und nimmt gerade Proben.
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