»Vielleicht ist er krank? Oder unerfahren? So als Handaufzucht«, überlegt Jana.
»Möglich. Aber das ist alles reine Spekulation.«
»Wieso hast du denn die Sichtung nicht in deinem Artikel erwähnt?«, will Jana wissen.
»Ich wollte keine Panik auslösen. Du weißt doch, wie die Leute sind, wenn es um Wölfe geht.« Ich mache eine leichte Kopfbewegung gen Fritz, der sich gerade lautstark für die Bejagung des Wolfs ausspricht. Wahrscheinlich sieht er in seinem Attila schon den Hund, der heldenhaft die wilde Bestie stellt.
Jana verdreht die Augen. »Ja, dann ist es nicht mehr weit bis zum Problemwolf.«
Ich nicke. »Eben.«
»Hallo«, ertönt es plötzlich hinter mir. »Schön, dass ihr da seid.«
Ich drehe mich um und da steht Christopher. Er lächelt uns zur Begrüßung freundlich zu und öffnet das Tor, um uns auf die Wiese zu lassen. Sputnik und Ernst liefern sich fast ein kleines Wettrennen: Beide wollen unbedingt auf die Wiese, am liebsten natürlich als Erster. Also hängen sie in ihren Geschirren, die Leinen spannen und sie ziehen uns hinter sich her. Sputnik gewinnt – was kein Wunder ist, denn er ist doppelt so groß wie Ernst, ich bin aber nur halb so breit wie Hanno.
»Sieht aus, als hätte Sputnik hier das letzte Mal Spaß gehabt«, meint Christopher neben mir mit einem Schmunzeln in der Stimme.
Ich drehe mich zu ihm und stelle fest, dass er direkt neben mir steht, also muss ich ein bisschen zu ihm aufsehen. Er ist sicher gut zehn Zentimeter größer als ich. Letzte Woche ist mir das nicht so aufgefallen, aber neben Hanno wirken alle anderen auch winzig.
»Ja, hat er«, meine ich und habe alle Hände damit zu tun, meinen Hund daran zu hindern, mich höchst unelegant auf die Wiese zu schleifen. »Ich hoffe, er ist heute ähnlich motiviert dabei wie letzte Woche. Am Rückruf müssen wir echt arbeiten.«
»Oh?«
»Er ist mir letztens im Wald abgehauen.«
»Wie das?«
»Keine Ahnung. Plötzlich war er weg. Wahrscheinlich hat er im Wald etwas gesehen.«
»Gut möglich. Rehe können schon sehr spannend sein.«
»Ja, leider.«
In diesem Moment bemerkt Sputnik Christophers Anwesenheit. Er begrüßt ihn euphorisch und wedelt dabei so heftig mit dem Schwanz, dass man ihm mit den Augen kaum folgen kann. Begeistert springt er an Christopher hoch, woraufhin der sich leicht zur Seite wendet, dabei aber breit grinst.
»Na Kleiner, dir hat es hier wirklich gefallen letzte Woche, was?«, meint Christopher und wendet sich Sputnik wieder zu, als der sich etwas beruhigt hat. Noch immer wedelt er euphorisch mit dem Schwanz. Lächelnd streichelt Christopher Sputnik zur Begrüßung. Der wiederum schmeißt sich prompt auf den Rücken und verlangt überdeutlich, am Bauch gekrault zu werden.
Ich lache auf. »Aufdringlicher Kerl.«
Christopher will etwas erwidern, da drängt sich plötzlich Fritz zu uns heran. »Was sagst du eigentlich zu dieser Wolfsattacke?«
»Welche Wolfsattacke?«, fragt Christopher irritiert.
»Na, bei Gerd Blümle am Hof war doch der Wolf und hat die Schafe gejagt, bis eines gestorben ist.«
»Ich dachte, es ist nicht sicher, dass das ein Wolf war«, meint Christopher ausweichend.
Ich nicke. »Ist es auch nicht.«
Fritz tut das mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Was soll es denn sonst gewesen sein?«
»Ich sagte doch schon, es kann auch ein Hund gewesen sein oder ein Luchs.«
»Und wenn es ein Wolf war?«, beharrt Fritz.
»Dann war das ein ganz natürliches Verhalten«, meint Christopher und richtet sich auf, was Sputnik deutlich missfällt. Er fiept leise und versucht, Christophers Aufmerksamkeit zurückzuerlangen. »Wölfe unterscheiden nicht zwischen Nutztieren und Wildtieren. Sie sehen in beiden Nahrung. Wenn ein Wolf Schafe sieht, freut er sich allenfalls, weil er die – anders als Rehe – nicht auch noch jagen muss. Wölfe müssen auf ihre Energiereserven achten und eine Schafherde erscheint ihnen nun einmal wie ein Selbstbedienungsbüfett. Vor allem, wenn sie nicht entsprechend abgesichert ist.«
»Das ist schon klar«, meint Fritz, »Aber es ändert nichts daran, dass der Schaden, den Wölfe verursachen, für die Bauern viel zu hoch ist.«
»Es ist ein Schaf gestorben«, schalte ich mich ein. »Und das nicht, weil es gerissen wurde, sondern weil es sich in einem Zaun stranguliert hat. Das ist doch wirklich noch ein bisschen früh für solche Panik. Selbst wenn es ein Wolf gewesen sein sollte. Was man, wie gesagt, nicht weiß.«
»Das denke ich auch«, sagt Christopher und nickt. Fritz' Augenrollen ignoriert er. »Aber wenn ihr mögt, können wir heute auch darüber reden, wie man sich verhalten sollte, wenn man einem Wolf begegnet. Gerade wenn man mit Hund unterwegs ist, sollte man ein paar Dinge beachten.«
Die anderen nicken und so beginnt Christopher seine Einheit mit einem kleinen Wolf-Hund-Mensch-Verhaltenskodex. Wie letztes Mal auch schon, stellen wir uns in einem großen Kreis um Christopher herum auf. Und wie letztes Mal auch, beruhigt sich Sputnik relativ rasch und setzt sich hin, während vor allem Bonnie japsend in der Leine hängt und von Ruhe gar nichts hält.
»Also, zuallererst: Es ist sehr unwahrscheinlich, überhaupt einem Wolf zu begegnen. Auch in Wolfsgebieten und wir wissen ja noch gar nicht, ob sich hier ein Wolf territorial niedergelassen hat. Wölfe leben in Rudeln, die aus einem Elternpaar und deren Nachwuchs bestehen. Ab einem bestimmten Alter verlässt der Nachwuchs das Rudel und zieht allein los, um vielleicht ein eigenes Rudel zu finden. Im Nordschwarzwald lebt ein solcher Einzelwolf, das ist nachgewiesen. Und immer wieder ziehen andere Einzelwölfe durch Baden-Württemberg. Vielleicht jetzt auch hier. Wenn es denn ein Wolf war, ist er jetzt wahrscheinlich schon wieder weg. Wölfe legen in kurzer Zeit große Distanzen zurück.«
Christopher fährt sich durch sein kurzes Haar und scheint einen Moment nachzudenken, was er als Nächstes sagen soll. Seine Stimme ist eindringlich, als er fortfährt.
»Wie gesagt, ihr werdet höchstwahrscheinlich nie einem Wolf in der Natur begegnen. Wölfe bemerken Menschen lange, bevor das umgekehrt der Fall ist. Und sie haben kein Interesse an einer Begegnung mit euch, werden euch also ausweichen. Solltet ihr doch einen Wolf sehen: Haltet Abstand, geht nicht auf den Wolf zu und bedrängt ihn nicht. Das gilt eigentlich für jedes Tier – mit einem Hund solltet ihr das schließlich auch nicht machen. Normalerweise wird ein Wolf abhauen, wenn er euch bemerkt. Tut er das nicht, dann macht auf euch aufmerksam, redet laut, und entfernt euch langsam. Sollte der Wolf euch in einem gewissen Abstand folgen, dann ergreift nicht panisch die Flucht, sondern geht langsam und uninteressiert weiter. Am besten ihr sprecht dabei laut. Wenn ihr ein ungutes Gefühl haben solltet, bleibt stehen, macht Lärm und macht euch groß, um den Wolf zu vertreiben.«
Christopher macht eine kurze Pause und lässt seinen Blick dabei schweifen, als würde er auf der Wiese die Worte suchen, die ihm fehlen. Dann seufzt er und spricht weiter.
»Wenn ihr mit dem Hund in Wolfsgebiet unterwegs seid, kann es passieren, dass der Wolf den Hund als Eindringling in sein Revier wahrnimmt und ihn angreift. Wie gesagt, wir wissen noch nicht, ob sich hier ein Wolf territorial niedergelassen hat. Sollte das der Fall sein, solltet ihr eure Hunde im Wald nicht unangeleint führen und sie in eurer Nähe halten. Es kann sein, dass der Wolf sich dennoch dem Hund nähert und euch ignoriert. Sollte das passieren, reagiert ihr so, wie ich es vorhin schon gesagt habe. Ihr geht langsam rückwärts, ihr macht den Wolf durch lautes Rufen und Gestikulieren auf euch aufmerksam, zur Not werft ihr mit Gegenständen nach dem Wolf. Vielleicht nicht unbedingt mit eurem Handy.«
Verhaltenes Lachen auf der Wiese. Mir jedoch ist jetzt ein wenig mulmig zumute. Ich sehe zu Sputnik, der mich anlacht und leise fiept. Wenn das wirklich ein Wolf war, mit dem er da im Wald gespielt hat, hat er riesiges Glück gehabt.
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