»Was ist denn nun genau passiert?«, schalte ich mich ein, bevor die beiden noch ernsthaft einen Streit beginnen.
»Der Wolf hat meine Schafe attackiert, das ist passiert!«, ruft Blümle.
»Das ist nicht erwiesen«, insistiert die Frau. »Was wir wissen, ist, dass ein Schaf zu Tode gekommen ist, weil es sich im Zaun stranguliert hat. Wir vermuten, dass ein Beutegreifer auf die Weide gelangt ist und die Schafe gejagt hat. Gerissen hat er jedoch keines. Die Herde hat Panik bekommen und dieses eine Schaf ist besonders unglücklich in den Zaun gerannt. Um welchen Beutegreifer es sich dabei gehandelt hat, können wir jedoch nicht mit Sicherheit sagen.«
»Es war ein Wolf!«
»Das wissen wir nicht. Es gab wohl Pfotenabdrücke im Matsch, aber inzwischen sind hier so viele Leute über die Weide gelaufen, dass die unbrauchbar sind und ich eine Bestimmung nicht vornehmen kann.« Die Frau deutet demonstrativ auf die kleine Menschenmenge, ehe sie sich mir wieder zuwendet und mir die Hand hinhält. »Übrigens: Nadine Weilauer. Ich bin die Wildtierbeauftragte hier in der Gegend.«
»Angenehm«, meine ich und schüttle ihre Hand.
»Es war definitiv ein Wolf«, beharrt Blümle.
»Es könnte genauso gut ein Hund gewesen sein«, widerspricht Weilauer. »Vielleicht war es auch ein Luchs. Wir wissen es einfach nicht mit Sicherheit. Die Pfotenabdrücke waren die einzigen Spuren und sie sind zerstört. Es gibt kein Bildmaterial und erst recht keine DNS-Proben. Denn wie gesagt: Es wurde kein Tier gerissen. Der Beutegreifer hat sich auch kein Haarbüschel ausgerissen und es uns freundlicherweise dagelassen.«
Ich schmunzle. Ihre sachliche, wenn auch leicht sarkastische Art, die im denkbar größten Kontrast zu Bauer Blümle mit dem zornesroten Kopf steht, gefällt mir.
»Kann ich mir die Weide vielleicht ansehen?«, erkundige ich mich.
»Natürlich«, meint der Bauer sofort. »Sie wollen ja sicher Fotos machen. Die Leute müssen erfahren, was hier passiert ist.«
»Sie müssen vor allem erfahren, dass wir nicht wissen, was passiert ist«, betont Weilauer.
Blümle macht ein unwirsches Geräusch und schiebt mich in Richtung Weide. So etwas kann ich gar nicht ausstehen, also mache ich sofort einen Schritt zur Seite und weiche der Berührung aus.
Auf der Weide bietet sich uns ein trauriger Anblick. Im Schafzaun hängt das tote Schaf, und ich bin froh, dass ich es nur von hinten sehe. Ich stelle mir gebrochene, hervorgequollene Augen vor und ich frage mich, ob der Bauer recht hat mit seinem Verdacht. Unweigerlich schießt mir meine Begegnung im Wald durch den Kopf. Was, wenn es doch ein Wolf war?
Am Sonntag verfolgt mich das tote Schaf bis in die Hundeschule. Ich komme fünf Minuten vor Beginn der Stunde an, stolz, dass ich trotz des Wetters hergekommen bin. Die Wolken hängen tief und es nieselt. Seit ich einen Hund habe, besitze ich tatsächlich Gummistiefel und auch die Funktionsjacken, die ich davor schon hatte, machen jetzt endlich Sinn.
Kaum bin ich ausgestiegen, lasse ich auch Sputnik aus dem Auto. Er ist sein typisches fröhliches Selbst, als er hinunterhüpft, sich kurz umsieht und mich dann eilends hinter sich herzieht, um Ernst und Hanno gebührend zu begrüßen. Hanno lächelt mich breit an und ich erwidere sein Lächeln automatisch. Er hat ein wirklich hübsches Lächeln. Es macht sein eigentlich grobes Gesicht so weich und sanft.
Neben Hanno steht Jana, die mir zur Begrüßung zuwinkt. Die beiden halten merklichen Abstand zu den anderen, die auch schon alle da sind und sich miteinander unterhalten. Aus den Bruchstücken, die ich hören kann, folgere ich, dass es um ein bestimmtes Thema geht: das Schaf.
»Hast du schon von der Wolfsattacke gehört?!«, werde ich dementsprechend von Fritz begrüßt, noch bevor ich bei Hanno angekommen bin.
»Man weiß nicht, ob es ein Wolf war«, antworte ich automatisch.
»Ja, das haben die in der Zeitung auch geschrieben, aber das ist doch Augenauswischerei.«
»War der Artikel von dir?«, schaltet sich Jana ein und grinst dabei breit. Ich habe das Gefühl, sie genießt es ein bisschen, Fritz auflaufen zu lassen. Ihre Körpersprache ist da überdeutlich: Sie ist extrem genervt von ihm.
»Ja.«
»Oh«, meint Fritz, kommt aber nicht dazu, noch etwas zu sagen, denn ich werde schon von Hanno belagert.
»Hallo«, sagt er leise und zieht mich in eine Umarmung, die vielleicht einen Hauch zu lange dauert.
»Hallo«, erwidere ich und drücke ihn ebenfalls. Unsere Hunde veranstalten währenddessen ein Leinenchaos, weil sie einander und uns begrüßen müssen. Ein bisschen erinnert das an eine gewisse Szene aus 101 Dalmatiner und es dauert ein Weilchen, bis wir uns lachend wieder entwirrt haben.
Nach Hanno begrüßt mich Jana mit einer Umarmung. Sie kann es sich dabei nicht verkneifen, mir zuzuzwinkern. Es war ihr sehr peinlich, dass sie sich in unser Nicht-Date gedrängt hat. Wahrscheinlich würde sie jubeln und mit Pompons wedeln, wenn es mit uns klappen sollte.
Ich werfe nun auch den anderen dreien zur Begrüßung ein »Hallo« zu, doch die sind schon wieder in ihr Gespräch vertieft.
»Das ist doch eine Sauerei! Da ist ein Wolf auf seiner Weide und die Leute behaupten, er wäre selbst schuld daran!«, ruft Fritz gerade.
»Wirklich?«, fragt Sibylle nach und sieht zu mir.
Ich nicke bloß, äußere mich aber nicht weiter dazu. Das übernimmt ohnehin Fritz für mich: »Ja! Angeblich hätte er den Zaun falsch montiert, sodass er eine Gefahr war, als die Schafe vor dem Wolf geflüchtet sind. Ich frage euch, ist das in Ordnung?!«
»Man weiß nicht, ob es ein Wolf war«, betone ich mechanisch und fühle mich ein bisschen wie Frau Weilauer gestern.
»Was soll es denn sonst gewesen sein?!«, will Fritz wissen.
»Es könnte auch ein Hund gewesen sein. Oder ein Luchs.«
»Meinst du, der Wolf, der dir begegnet ist…?«, fragt Hanno und dreht sich dabei merklich von Fritz, Edeltraud und Sibylle weg.
Ich mache einen Schritt zur Seite und zucke mit den Schultern. »Das habe ich mich auch schon gefragt. Der Bauernhof ist in der Nähe von da, wo mir Sputnik weggelaufen ist. Vielleicht hast du auch recht und es war ein Wolf. Aber auch das muss nicht heißen, dass er es war. Keine Ahnung.«
»Was für ein Wolf denn?«, will Jana wissen und ich erzähle ihr in einer Kurzfassung von meiner abendlichen Begegnung im Wald.
»Wow, krass«, meint Jana, nachdem ich meine Geschichte beendet habe.
»Mhm«, mache ich nur.
»Vielleicht solltest du das melden?«, erkundigt sie sich.
»Habe ich schon.«
»Echt?«
»Ja, ich habe es damals gleich an das Amt gemailt und auch gestern der Wildtierbeauftragten davon erzählt. Ich habe ihr auch gesagt, dass ich nicht sicher bin, ob es ein Hund oder ein Wolf war und dass er sich nicht so benommen hat, wie ein Wolf das wohl normalerweise täte. Das fand sie wiederum ziemlich beunruhigend.«
»Inwiefern?«
»Na ja, es könnte dafür sprechen, dass es – wenn es denn ein Wolf war – ein Tier ist, das die Scheu vor dem Menschen verloren hat. Vielleicht, weil es eine Handaufzucht ist, die ausgesetzt wurde, oder weil es jemand angefüttert hat. Wölfe sind ja eigentlich nicht gefährlich für den Menschen. Solche Wölfe können es aber unter Umständen sein. Bloß… Er war so freundlich. Ich kann das schwer erklären, aber ich hatte echt nicht das Gefühl, dass er irgendwie aggressiv sein könnte.«
»Aber du weißt es nicht«, meint Hanno.
»Nein, natürlich nicht. Aber ich weiß auch nicht, ob er etwas mit den Schafen zu tun hatte oder ob er überhaupt noch in der Gegend ist. Und selbst wenn er die Schafe gejagt hat: Dann hatte er eben Hunger. Auch das macht ihn nicht gefährlich. Allenfalls ein bisschen dämlich.«
»Wieso das?«
»Na ja, er war zu doof, auf einer abgezäunten Wiese ein Schaf zu fangen. Das spricht nicht für seine Qualitäten als Jäger.«
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