1 ...6 7 8 10 11 12 ...23 Das Licht wird zunehmend dämmrig und trüb. Der Wald verliert seine Farbe. Mich überrascht diese frühe Dämmerung. Ich habe mich einfach noch nicht daran gewöhnt, dass es mittlerweile wesentlich früher dunkel wird als noch vor einem Monat. Verstärkt wird die einbrechende Dunkelheit noch durch den zunehmend dichter werdenden Wald, durch den mich der schmale Pfad führt. Anders als bei meinem Irrweg durch den Wald beim Badesee finde ich die Dämmerung und Geräusche heute jedoch nicht unheimlich, sondern angenehm einnehmend.
Manchmal lichtet sich der Wald ein wenig, dann wird es sofort merklich heller. Irgendwann kommen wir an einigen Bäumen vorbei, in denen eine Schar Krähen sitzt. Sie krächzen und machen einen Heidenlärm. Ich bleibe stehen und beobachte sie ein wenig. Schon als Kind hatte ich ein Faible für Krähen. Wenn am Abendhimmel die riesigen Krähenschwärme zu ihren Übernachtungsplätzen flogen, war das das Größte für mich.
Als ich mich umdrehe, ist Sputnik weg.
Eine eiskalte Hand greift nach meinem Herzen. Wo ist er? Eben war er doch noch da. Er kann doch nicht einfach so weg sein!
»Sputnik!«, rufe ich und immer wieder: »Sputnik!!«. Doch mein Hund bleibt verschwunden.
Keine tapsenden Pfoten, kein wild wedelnder Schwanz, keine zerzausten Flatterohren. Nichts.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ihn suchen? Aber wo? Angeblich kommen Hunde, die weglaufen, zumeist an den Ursprungsort zurück. Soll ich also einfach stehen bleiben?
Ich fühle mich so hilflos und nutzlos und doch weiß ich nichts anderes zu tun als stehen zu bleiben, zu warten und immer wieder nach Sputnik zu rufen. Irgendwann probiere ich es sogar mit seinem alten Namen und brülle »Justin!« in der Hoffnung, dass er darauf reagiert. Doch es rührt sich nichts.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dastehe und rufe. Gerade versuche ich, mich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, heimzufahren, weil es dunkel wird, und Sputnik morgen zu suchen, sobald es hell ist – da höre ich plötzlich ein lautes Rascheln und meine vermissten tapsenden Schritte. Ein ganzes Stück von mir entfernt erscheint Sputnik plötzlich zwischen zwei Bäumen. Erleichterung durchströmt mich.
»Da bist du ja!«, rufe ich und ich gehe lachend in die Hocke, um Sputnik zu begrüßen. Mit wedelndem Schwanz läuft er auf mich zu.
Und dann bricht noch ein Tier aus dem Unterholz hervor. Folgt Sputnik. Verfolgt ihn.
Ein Wolf.
Er ist dunkel und schmal gebaut und oh mein Gott, er ist groß. Riesig neben meinem Hund. Jede seiner Bewegungen kündet von seiner Kraft.
Das Herz bleibt mir halb stehen, dann rast das Adrenalin durch meinen Körper. Was soll ich tun? Wie mich verhalten? Ich hätte nie damit gerechnet, bei einem Spaziergang einem Wolf zu begegnen. Natürlich weiß ich, dass der Schwarzwald eines der Gebiete ist, in die Wölfe zurückkehren, doch hier in der Gegend wurde noch nie einer gesichtet und so habe ich mich noch nicht damit befasst, wie man sich bei einer Wolfsbegegnung idealerweise verhält. Also, was soll ich tun? Ruhig bleiben oder Lärm machen? Und vor allem: Wie kann ich Sputnik vor dem Wolf beschützen?
Plötzlich macht Sputnik eine Vollbremsung. Der Wolf erreicht ihn. Und Sputnik, dieser größenwahnsinnige Idiot von einem Hund, pöbelt ihn an, geht auf die Hinterbeine und auf den Wolf los. Anstatt sich unterwürfig zu zeigen und zu beten, dass der Wolf ihn in Frieden lässt.
Der Wolf schubst Sputnik einfach um und springt geradezu auf ihn drauf. Und dann sind die beiden nur noch ein felliges Gewirr in der Dunkelheit, das japsende und knurrende Geräusche und ab und an ein Fiepen von sich gibt.
Gegen den Wolf hat Sputnik keine Chance, auch wenn er eine ausgeprägte Form des Napoleonkomplexes hat.
Endlich erwache ich aus meiner Starre und renne auf die beiden zu, auch wenn es bestimmt dämlich ist, zu versuchen, den Wolf zu vertreiben. In diesem Moment löst sich das fellige Knäuel wieder in zwei separate Tiere auf. Die beiden verharren, sehen sich an. Dann neigt der Wolf kurz seinen Vorderkörper gen Boden, ehe er abrupt losrennt. Und Sputnik jagt ihm hinterher.
Da wird mir klar, dass die beiden miteinander spielen.
Ich bleibe stehen und lehne mich schwer atmend gegen einen Baum. Der Schreck sitzt mir noch in allen Gliedern.
Mit der Erleichterung darüber, dass Sputnik nicht in Gefahr ist, kommt mein Verstand wieder zurück. Vielleicht ist das Tier, das sich dort vorne gerade von Sputnik durchs Gehölz jagen lässt, ja doch kein Wolf? Es verhält sich eher wie ein Hund. Und es gibt schließlich Hunderassen, die äußerlich einem Wolf gleichen. Hier in der Gegend gibt es sogar eine Saarlooswolfhund-Zucht, über die ich einmal einen Artikel geschrieben habe. Die Hunde dort sahen wirklich wölfisch aus und als Laie traue ich es mir nicht zu, den Unterschied zwischen Wolf und Hund sicher festzustellen. Schon gar nicht im Halbdunkel.
Wenn das ein Hund ist: Wieso ist er allein unterwegs? Ob er seinem Halter wohl abgehauen ist wie Sputnik mir?
Die beiden Tiere haben inzwischen wieder kehrtgemacht und laufen zu mir zurück.
»Mensch, Sputnik, was machst du nur für Sachen?«, japse ich und gehe in die Knie. Sofort ist mein Hund bei mir und begrüßt mich, als hätten wir uns wochenlang nicht gesehen. Und ein bisschen fühlt es sich auch so an.
Sein neuer Freund bleibt unterdessen ein Stück von uns entfernt stehen. Er sieht aufmerksam zu uns hinüber, die Ohren nach vorne gestellt, und er wirkt kein bisschen aggressiv. Ich weiß nicht, woher ich die Gewissheit nehme, aber ich bin mir sicher, dass mir dieses Tier – sei es nun Wolf oder Hund – nicht gefährlich ist.
»Danke, dass du mir Sputnik zurückgebracht hast«, sage ich leise zu ihm.
Das fremde Tier bedenkt Sputnik und mich noch mit einem langen Blick – dann macht es plötzlich einen Satz zur Seite, zwei schnelle Schritte und schon ist es im Wald verschwunden.
Gerade noch rechtzeitig bin ich geistesgegenwärtig genug, um Sputnik daran zu hindern, seinem neuen Freund zu folgen. Sicherheitshalber leine ich ihn wieder an. Dass er heute noch einmal abhaut, will ich nicht erleben müssen.
Mir bleibt nichts, als dem anderen Tier nachzusehen und mich zu fragen, ob ich versuchen hätte sollen, es einzusammeln und ins Tierheim zu bringen. Wenn es ein Hund ist, sollte er nicht so allein im Wald herumlaufen. Irgendjemand vermisst ihn dann bestimmt. Außer er ist ausgesetzt worden.
Auf alle Fälle sollte ich die Begegnung melden. Erst recht, falls es doch kein Hund war.
Der Freitag ist einer von jenen Tagen, an denen der Herbst so tut, als wäre er noch der Sommer. Die Sonne strahlt von einem blitzblauen Himmel und es ist angenehm warm. Das Licht jedoch ist golden und nicht so scharf wie noch vor einigen Wochen. Ein bisschen liegt auch schon der Geruch von Herbst in der Luft. Es duftet nach schwerem Laub, nach goldenen Feldern, nach eingebrachter Ernte und nach Pilzen. Die letzten beiden Tage hat es geregnet und jetzt ist es, als würde die Erde noch ein wenig ausdampfen.
»Wir haben uns den perfekten Tag ausgesucht«, meint auch Hanno, als er auf mich zukommt. Schon von Weitem habe ich ihn neben seinem Auto stehen und warten sehen. Gut sieht er aus in der Jeans und dem wie immer etwas zu tief ausgeschnittenen Shirt. Um die eine Schulter hat er lässig einen Rucksack hängen, über einen Arm trägt er einen Parka.
»Ja, das haben wir gut gemacht.« Ich öffne die hintere Tür meines Autos und lasse Sputnik heraus, dann wende ich mich Hanno zu. »Hallo.«
»Hey«, meint Hanno und zieht mich in eine Umarmung, in der ich mich winzig fühle, obwohl ich das eigentlich gar nicht bin. Ich bin nicht wirklich groß, aber winzig bin ich nicht. »Gut siehst du aus.«
Das Kompliment freut mich und gibt mir das Gefühl, dass das hier wirklich ein Date ist und nicht bloß eine gemeinsame Hunderunde. Natürlich hätte ich auch nicht so viel Zeit im Badezimmer verbracht, wenn ich das vorher nicht auch schon so gesehen hätte. Zu einer normalen Hunderunde hätte ich auch nicht meine beste Jeans angezogen und die bequeme, aber unsexy Goretex-Jacke daheim gelassen. Statt ihr trage ich einen dunkelblauen Pullover, von dem ich finde, dass er einen schönen Kontrast zu meinen braunen Haaren bildet. Hoffentlich wird es nicht plötzlich kühler, sonst werde ich darin erfrieren.
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