Sein Gesicht ist bäuerlich-quadratisch wie seine Figur, und seine Augen liegen unter buschigen Augenbrauen weit zurückgesetzt in ihren Höhlen, wie Raubtiere, die im Unterholz lauern. Sein Mund zieht sich an den Winkeln leicht nach oben. Trügerisch. Denn es ist kein Lächeln, es ist der Gesichtsausdruck, den er vor sechzig Jahren als Voreinstellung gewählt hat. Seit fünfundfünfzig Jahren hat er keinen Grund mehr gesehen, ihn zu verändern. Dr. August von Rottberg wurde am 19.8.1948 als erstes Kind von Adolf und Liesl Albrecht in Reichelshofen bei Rothenburg ob der Tauber geboren, und aus Mangel an Ideen nach seinem Geburtsmonat August genannt. In seiner jetzigen Erscheinungsform hat er mit dem Gustl Albrecht, der er hätte werden können, so viel gemein wie ein Schmetterling mit der Raupe, aus der er hervorgegangen ist, also nichts. Sein Vater war Bierfahrer bei der Landwehr-Bräu und dachte sich nicht viel bei der Namensgebung. Männer in der Familie trugen immer Vornamen mit A, und Adolf war schwer aus der Mode gekommen.
So strebte die vordere Hälfte des Namens nach Höherem, und die hintere Hälfte war fränkisch geerdet. Sein Leben hätte also so oder so verlaufen können, aber die Aspirationen seiner Mutter waren das Zünglein an der Waage. Sie war Flüchtling aus Ostpreußen und hatte im Dritten Reich als Küchenmädchen im adligen Haushalt der Dohna-Schlobittens auf Schloss Capustigall gearbeitet. In den letzten Monaten vor dem Zusammenbruch im Januar 1945 hatte sie sich unsterblich, aber vergeblich in Maximilian, den Sohn des Grafen, verliebt, ihre Tagträume von einer gemeinsamen Zukunft halfen ihr über die Schrecken der Flucht hinweg und trösteten sie angesichts der harten Realität ihres Daseins in Franken. Mit der Zeit übertrug sie die Visionen einer goldenen Zukunft auf ihren Sohn. Wenn schon nicht aus ihr, dann sollte aus August etwas Besseres werden. Gustl durfte ihn keiner nennen, nicht mal sein Vater. Als Kind kleidete sie ihn schon wie einen kleinen Erwachsenen, Jeans, Turnschuhe und T-Shirt kamen nicht infrage, sein Haarschnitt trotzte den schmierigen Tollen der Elvis-Ära – und erst recht der darauf folgenden Beatles-Frisur, zeugte vielmehr vom eindeutigen Bekenntnis zum Fassonschnitt, den er heute noch trägt. Hochdeutsch statt Fränkisch, statt Fußball beim SV Reichelshofen Malen nach Zahlen zu Hause; evangelische Jugend statt Saufen bei der Freiwilligen Feuerwehr, und Zeltlager mit den Pfadfindern im Taubertal statt Feiern mit den Ortsburschen auf Kirchweih. Latein statt Englisch auf dem Reichsstadt-Gymnasium in Rothenburg, Abitur 1967, Universität Konstanz, Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Romanistik. Mitglied in der Studentenverbindung Corps Saxonia statt Engagement in der APO. Staatsexamen 1972, promoviert 1976. Dann absolvierte er noch einen Rhetorik-Kurs, bei dem er lernte, seine Quiekstimme um eine Oktave zu senken. Aber immer noch hieß er Dr. August Albrecht, immer noch strebte er nur mit dem Oberkörper, mit dem Namensanfang, nach Höherem, während sein Rumpf, sein Familienname, im Sumpf steckte. Dann lernte er auf einem Stiftungsfest des Corps Saxonia in Konstanz Sophie von Rottberg kennen, aus dem Adelsgeschlecht der von Rottbergs aus Landsberg am Lech. Sie war mit ihrem Vater Max, einem Alten Herren, angereist. Für Augusts Zwecke schien sie optimal geeignet; unscheinbar und schüchtern. Sie wirkte, als ob sie froh wäre, überhaupt wahrgenommen zu werden. August umwarb sie, heiratete sie, nahm ihren Namen an, und die Verwandlung war komplett. Ob er selbst jemals etwas anderes aus sich machen wollte als seine Mutter und wann die Mühlen dieser Transformation die letzten Reste von Empathie in ihm zermalmten oder ob er gänzlich ohne Empathie auf die Welt gekommen war, ist nicht mehr festzustellen.
Nur einmal drohte ein Besucher aus seiner Vergangenheit beim Aufbau des Bildes zu stören, das von Rottberg von sich zu vollenden gedachte. Es war auf dem Stiftungsfest in Konstanz, zwischen dem Begrüßungsabend am Freitag, an dem August Sophie zum ersten Mal sah, und dem Stiftungsfestball am Samstag, auf dem er sie zum Tanz auffordern wollte. Beim Sektfrühstück im Konzil am Samstagvormittag kam an der Theke ein junger Kerl auf ihn zu. »Endlich ein bekanntes Gesicht«, sagte dieser. Er war schlaksig, pickelig und mit seinen langen Haaren so gar nicht der typische Corps-Student. Heiner Hartl hieß er. Es stellte sich heraus, dass er auf dem Gymnasium in Rothenburg eine Klasse unter August gewesen war. Nun war er ein neuer Student in Konstanz. Er tat so, als ob er und August in Rothenburg die dicksten Freunde gewesen wären, was nicht stimmte, weil August auf dem Gymnasium, wie auch später an der Uni, oder überhaupt in seinem ganzen Leben, nie einen Freund gehabt hat. Es war Heiners Pech, dass er just zu diesem Zeitpunkt in Augusts Leben auftauchte; er hätte bestimmt bald gemerkt, dass August kein Interesse an einer Freundschaft mit ihm hatte, und ihn in Ruhe gelassen, aber leider nicht schnell genug für August. Denn dieses Wochenende war eine besonders heikle Phase in Augusts Verwandlungsprojekt, und Augusts Herkunft, seine wirkliche Provenienz, sollte an dem Abend beim Ball keine Rolle spielen. »Hast du schon das Aufnahmeritual bestanden?«, raunte er in Heiners Ohr, gerade laut genug, um das Stimmengewirr im Konzil zu übertönen.
»Welches Aufnahmeritual?«, antwortete dieser verunsichert.
»Mmh«, grübelte August. »Das ist keine einfache Sache, wenn man unvorbereitet damit konfrontiert wird. Ach, weißt du was, ich helfe dir.« Er klopfte Heiner auf die Schulter. »Das üben wir heute Abend. Wir treffen uns um 17 Uhr am Münster. Aber erzähl keinem was davon. Ich darf dir das eigentlich gar nicht verraten.«
Dass Heiner niemandem davon erzählen sollte, hatte natürlich auch damit zu tun, dass es kein Aufnahmeritual für das Corps Saxonia gab. Das entsprang ganz Augusts Fantasie in diesem Moment, bunt und hübsch wie ein Zwerghuhnei, darauf war er stolz. Ab dann war die Sache relativ einfach. August wusste, wie alle Corps-Mitglieder, dass die Kasse für den Turm des Münsters ab 17 Uhr unbesetzt war, weil der Kassierer um diese Zeit seinen Posten verließ, um seinen ersten Schoppen im Weinglöckle zu sich zu nehmen. Um die Zeit konnte man umsonst, und was für August viel wichtiger war, unbemerkt auf den Turm steigen. Es klappte alles; niemand saß an der Kasse, August nahm den Stuhl des Kassierers mit, weil er wusste, dass das Geländer auf dem Turm brusthoch war. Oben befand sich sonst niemand, und der Blick war wirklich atemberaubend. Die Altstadt, der Bodensee, sogar die fernen, schneebedeckten Alpen in der Schweiz konnte man sehen. Gerade fuhr eine Fähre von Meersburg in den Hafen. Alles unter einem strahlend blauen Himmel. Eigentlich ein Geschenk, dass es das Letzte war, was der arme Heiner sehen sollte.
»Danke, August, dass du mir das zeigst!« Es war fast rührend, wie dankbar Heiner für Augusts Zuwendung war. »Hat das Aufnahmeritual mit dem Stuhl zu tun?«
»Genau. Grundsätzlich ist das gut zu machen«, sagte August. »Nur wenn man nicht damit rechnet, scheitert man mitunter; das ist schon manchem passiert. Also, ich stelle den Stuhl hier an der Brüstung auf. Du musst dich draufstellen, zuerst nach unten schauen, dann in den Himmel, dann wieder nach unten. Du darfst dabei nicht wackeln. Man wird deine Knie genau beobachten, und beim kleinsten Zittern bist du durchgefallen. Mehr ist es gar nicht. Aber du musst mir versprechen, dass du niemandem erzählst, dass ich dir das vorher verraten habe. Du musst ganz überrascht tun.« Nicht so überrascht, wie du es gleich sein wirst, dachte sich August.
»Na, das werde ich wohl schaffen«, sagte Heiner.
August stellte den Stuhl hin, und Heiner stieg darauf.
»So, jetzt nach unten schauen«, sagte August. Er hielt sich dabei im Hintergrund auf, sodass ihn von unten keiner sehen konnte. Heiner schaute ganz wagemutig in die Tiefe, vierzig Meter hinab zu den Sonnenschirmen auf dem Münsterplatz, zu den Autos und den Menschen.
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