Aber der Kerl ist nicht hier. Das gibt’s doch nicht! Samo hat schon überall gesucht. Kann der schon wieder weg sein? Ach, natürlich. Auf dem Klo muss er sein. Samo saust die Treppe hinunter, die Frau kommt ihm entgegen, als sie keuchend zum vierten Stock hinaufsteigt.
12.26 Uhr. Dorothea erreicht das Dachgeschoss. Sie ist außer Atem und muss sich kurz an die Wand lehnen. Hier oben ist sonst niemand. Perfekt. Sie schaut sich um. Da muss es sein, im Erker drüben steht ein Tisch mit einer Mappe drauf. Sie schleppt sich dorthin. Die Mappe ist aufgeklappt. Lose Blätter liegen darin, gut ausgeleuchtet vom Licht, das durch die Erkerfenster ins Zimmer fällt. Sie dreht sich nach hinten. Ja, da oben an der Decke ist eine Kamera angebracht. Dorothea geht vor zum Erkerfenster und schaut hinunter. Ambrosius ist kurz davor, das Museum zu betreten. Er schaut hoch zu ihr und winkt, Dorothea schaut zu ihm hinunter. Sie will die Hand zum Gruß heben und macht es doch nicht. Die Kamera.
Dorothea läuft im Uhrzeigersinn durch den Raum und schaut die Bilder an den Wänden an. Sie schaut sie an, nimmt sie aber nicht wahr. Sie kann sich nicht darauf konzentrieren, fasst sie als Farbzusammenstellungen auf, als abstrakte Kunst, obwohl sie gegenständlicher nicht sein könnten. Sie denkt schon an die Mappe. Von unten kommen keine Geräusche, es ist immer noch niemand sonst im Haus. Ein unfassbares Glück! Das Schicksal meint es gut mit ihnen, Ambro und Doro. Ja, bitte, nur weiter so, liebes Schicksal. Dieses eine Mal.
12.32 Uhr. Dorothea beginnt die Mappe durchzublättern. Sie wundert sich, dass ihre Hände nicht zittern. Aquarelle, Zeichnungen, Drucke. Alles in riesigen Klarsichtfolien, davon wusste Ambrosius anscheinend nichts. Ritter auf Pferden, Tiere, nackte Menschen, Landschaften, biblische Szenen, Kinder. Wieso konnte Dürer keine Kinder malen? Schauen aus wie Greise. Hunde, Vögel, Affen, Hase, Hund. Halt, zurück. Hase.
Da ist es ja. Schwarz-weiß. Dorothea atmet durch. Das war ja einfach. Genau, knuffiges Fell. Das Papier ist sogar mit braunen Flecken pigmentiert. Aber da ist überhaupt kein Monogramm zu sehen. Die untere Papierseite ist unregelmäßig, wirkt jedoch nicht angerissen. Dorothea blättert weiter. Rehbock, Käuzchen, wieder überproportionierte Kinderköpfe, Hase. Hase. Ein zweiter Hase. Mein Gott, Ambro, du Trottel. Dorothea blättert schnell weiter durch. Kein Hase mehr. Zwei Hasen, das ist schon ein Hase zu viel. Sie blättert zurück. Welcher Hase ist der Richtige? Oder sind beide richtig? Hat Ambro zwei Fälschungen gemacht? Wie ein scheinbar einfacher Auftrag sich auf einmal zur komplizierten Entscheidung auswachsen kann! Einmal ist Dorothea als sechsjähriges Kind von ihrer Mutter zum Metzger geschickt worden. Sie sollte 500 Gramm Aufschnitt kaufen, und hat 1 DM mitbekommen. »Ist das genug?«, hat sie gefragt. »Mehr als genug«, sagte ihre Mutter. »Und dass du mir das Wechselgeld heimbringst.«
Beim Metzger brachte Doro ihren Wunsch vor.
Er lehnte sich über die Theke zu ihr herunter und fragte: »Einfacher Aufschnitt oder mit Bierschinken oder mit Bierschinken und Salami?«
Panik brach in Doro aus, und Tränen schossen in ihre Augen. »Weiß ich nicht«, sagte sie.
»Dann machen wir mit Bierschinken, aber ohne Salami, gell?« Und etwas später sagte er: »Das macht eine Mark und neun Pfennige.«
Jetzt heulte Doro tatsächlich.
»Wie viel hast denn dabei?«, fragte der Metzger.
Doro zeigte ihm die Mark.
»Dann nehmen wir halt die«, sagte er und nahm sie.
Zu Hause wurde Doro von ihrer Mutter dann fürchterlich geschimpft, weil sie den teuren Aufschnitt genommen und kein Wechselgeld zurückgebracht hatte, sodass sie drei Jahre lang nicht mehr zum Metzger gegangen ist.
So fühlt es sich jetzt an. Nein, es fühlt sich jetzt tausendmal schlimmer an.
Also, welcher Hase?
12.32 Uhr. Auch hier unten ist nichts los. Ambrosius ist der einzige Kunde im Laden. Er geht zur Kasse. »Entschuldigen Sie«, ruft er dem Mann zu, der im abgetrennten Teil vor den Monitoren sitzt.
Der Mann steht von seinem Platz auf und kommt nach vorne. Er wird ein paar Jahre jünger als Ambrosius sein. Seine dunklen, langen Haare liegen nostalgisch gekämmt und von Haarcreme glänzend über seiner Glatze wie ein nasses Kleidungsstück aus der Waschmaschine, das trocknen soll, und sein Rautenpulli ist ebenfalls aus den Siebzigerjahren.
»Welches Buch über Dürer können Sie empfehlen?«, fragt Ambrosius.
»Das kommt ganz darauf an«, sagt der Kassierer. »Was Sie wollen.«
Bingo. Ambrosius muss ein breites Lächeln unterdrücken. Das ist genau die Antwort, die Ambrosius braucht. Und genau der Typ.
»Wie meinen Sie das, was ich will?«, fragt er, stützt sich mit beiden Ellbogen auf die Theke und fixiert den Mann mit seinem Blick.
»Wollen Sie nur eine Biografie, wollen Sie ein Werksverzeichnis, wollen Sie beides, wollen Sie viel Geld ausgeben oder wenig?«
Perfekt. »So genau habe ich mir das nicht überlegt.«
»Na, dann überlegen Sie genau und dann kommen Sie wieder.« Der Mann dreht sich weg.
Scheiße. Jetzt hat Ambrosius den Bogen überspannt. »Warten Sie mal«, sagt er. »Wenn ich schon so einen Experten wie Sie zur Hand habe, dann muss ich das doch ausnutzen. Also, ich will eine Biografie, mit Bildern drin, und Geld spielt keine Rolle.«
Der Mann dreht sich wieder um. »Na also. Da sind wir doch schon einen großen Schritt weiter. Da gab es zum Beispiel zur großen Dürer-Ausstellung in der Albertina ein Begleitbuch von Christof Metzger.«
»Aha. Haben Sie es da?«
12.35 Uhr zeigt Dorotheas Smartphone. Zwei Minuten noch. Welcher Hase? Oder beide? Oder keiner davon? Moment, das Monogramm von Dürer. Unten, auf dem zweiten Bild, da ist die rechte Ecke angerissen, genauso wie Ambrosius es beschrieben hat. Nur ist die Ecke ganz herausgerissen, vom Monogramm ist gar nichts zu sehen. Schnell blättert sie zurück zum ersten Hasen. Da ist nichts herausgerissen, die Seite ist nur unten unregelmäßig. Und der Strich ist irgendwie heller als auf der späteren Seite, mehr grau als schwarz. Eine Tuschzeichnung oder sowas. Auf jeden Fall keine Kohlezeichnung.
Also muss es der zweite Hase sein.
12.38 Uhr. »Sie müssen wissen, Dürer war der Scheidepunkt. Vor ihm galten Maler in Deutschland als Handwerker und nicht als Künstler«, erklärt der Kassierer.
»So? Da hat sich nicht viel daran geändert«, sagt Ambrosius.
Er hört Schritte auf der Treppe, dreht sich um und schaut direkt in die blassblauen Augen eines kleinen, kahlköpfigen Kerls. Er starrt Ambrosius mit einem intensiven, verstörenden Blick an, als ob er ihn kennt. Dann tauchen auf der Treppe hinter ihm zwei verschiedenfarbige Stiefeletten auf, eine grün, eine rot. Ganz vorsichtig, etwas wackelig steigen sie die Stufen hinab. Dorothea. Immer mehr von ihr kommt ins Blickfeld, rot-braune, grün-blaue, gelb-orange Felder. Es ist wie ein Patchwork-Vorhang, der auf eine Theaterbühne fällt. Ambrosius meint, ein Knistern zu vernehmen, wie von Plastik. Zum Schluss kommt Doros Kopf, der Ambrosius unmerklich zunickt.
»Sind Sie wohl aus der Branche?«, fragt der Kassierer.
»Was?«, entgegnet Ambrosius.
»Weil Sie gesagt haben, da hat sich nicht viel geändert.«
Scheiße. Zu viel verraten. »Nee. Ich bin Maler. Also, ich streiche Flächen an. Wände und so. Halt immer nur in einer Farbe. In Blau, Rot, was die Leute wollen.«
»Aha. Interessant. Monochromie. Kasimir Malewitsch. Ad Reinhardt.«
»Nee, nee. Nicht so. Ich bin einfacher Anstreicher. Wohnzimmer, Küchen, Schlafzimmer.«
»Ach so.«
Aus dem Augenwinkel sieht Ambrosius, wie Dorothea sich in Richtung Toiletten bewegt, begleitet von diesem merkwürdigen Knistern und mit einem eigenartigen Gang, als ob sie gleich Durchfall bekommt oder etwas zwischen ihre Beine gesteckt hat. Das ist gut. Dann hat sie etwas zwischen ihre Beine gesteckt. Und Ambrosius muss vor ihr hier raus.
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