Killen McNeill
Der falsche Feldhase
Frankenkrimi
ars vivendi
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage Oktober 2020)
© 2020 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg
Alle Rechte vorbehalten
www.arsvivendi.com
Lektorat: Dr. Felicitas Igel
Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg
Motivauswahl: ars vivendi
Covermotiv: © Fotomontage nach dem Aquarell »Feldhase« (1502) von Albrecht Dürer
Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag
eISBN 978-3-7472-0189-3
Inhalt
Erster Teil: Der Feldhase von Albrecht Dürer Erster Teil: Der Feldhase von Albrecht Dürer
30. April 2019 – Die Zeit ist reif
Samo
Provenienz eines Psychopathen
Zweiter Teil: Adam und Eva im Paradies von Lucas Cranach dem Älteren
Vinzenz
Die Malfabrik
Ein sensationeller Kunstfund
1. Mai 2019 – Die Fränkische Galerie
Fälscher
Luana
Dritter Teil: Selbstbildnis von Matthias Grünewald
Betrug
Abgeschleppt
Vier Einzelzimmer
2. Mai – Elly
Sommerhausen
Der Einbruch
Vierter Teil: Skizzenbuch von Wassily Kandinsky
3. Mai – Mit dem Kopf anfangen
Nachbarschaftshilfe
Narrengold
Irgendwas ist komisch
Der schwarze Ora
Action Painting
Fünfter Teil: Hochzeit in Shkodra von Kolë Idromeno
Ein schlechter Tausch
Der Autor
Danksagung des Autors
N N M H
Erster Teil: Der Feldhase von Albrecht Dürer
30. April 2019 – Die Zeit ist reif
Die Zeit ist nie reif, deinem Ehemann, mit dem du seit über vierzig Jahren verheiratet bist, zu sagen, dass du ihn verlassen willst. Die Zeit ist überreif bis verfault, eine Birne, die seit Wochen im Sonnenlicht am Fenster liegt. Und sie kann nur noch fauliger werden.
Also besser spät als nie.
»Ambro?«, sagt Dorothea.
Ambrosius Siebenhaar, 69. Da sitzt er am Frühstückstisch und blättert die heutige Ausgabe der Fränkischen Landeszeitung durch. Atemberaubende Dummheit steht auf der Titelseite, und, etwas kleiner darunter: Österreichischer Vizekanzler redet sich um Kopf und Kragen. Aber Ambrosius hat noch keinen Artikel zu Ende gelesen, er blättert rasch weiter. Er trägt ein graues, mit Ölfarben beflecktes Sweatshirt und schiebt die fein behaarten Unterarme nach vorne. Ihr Muskelspiel beim Umblättern wirkt auf Doro immer noch erotisierend. Sein Bauchgewölbe ist unter dem Tisch verborgen, das graue Knäuel seines Pferdeschwanzes auf der rechten Schulter ruht wie eine eingeschlafene Katze, die wachen grauen Augen sind ganz begierig auf die Zeitung gerichtet. Gut schaut er aus für sein Alter. Mit seiner Hakennase, den tief sitzenden Augen unter den buschigen Augenbrauen, dem Grübchen im Kinn, den vertikalen Falten in den Wangen. Wie ein alter, stolzer Raubvogel.
»Ambro?«
»Ja?«
»Hörst du mir zu?«
»Gleich, Doro, gleich.«
Der Tisch ist eine alte Hobelbank, die Ambrosius vor fünfunddreißig Jahren einem Bauern aus Kornhöfstadt abgeschwatzt hat. Seit fünfunddreißig Jahren sitzt Dorothea an der Seite mit dem nutzlosen Schraubstock und haut sich die Schienbeine an der Querplanke des Untergestells an. Das passiert Ambrosius nicht, weil er die Planke abgebaut hat. Auf seiner Seite halt. Auf einer Seite muss sie ja bleiben, Doro, wegen der Statik. Weil sonst die Bank zusammenfällt.
»Ah. Es steht drin«, sagt er zufrieden mit seiner kieseligen Stimme.
»Was?«
»Wolfram-von-Eschenbach-Preisträger 2019 Ambrosius Siebenhaar. Ha, horch zu: … ein Künstler auf vielen Gebieten; Malerei, Karikatur, Grafik und Bildhauerei. Endlich wird seine Kunst erkannt als das, was sie schon immer war: unverwechselbar, prägnant, verstörend in ihrer Intensität und zugleich letztendlich zutiefst tröstend. Seit Jahren verzichtet er auf Pinsel, arbeitet ausschließlich mit Händen und Fingern. Seine Bilder sind mehr wie Skulpturen, fast dreidimensional, deren Kraft und Aussage, wie das Leben selbst, sich erst aus der Ferne erahnen lässt. Na? Ist das nichts? Da blickt doch mal eine durch, oder?«
»Könnte fast von dir sein.«
»Das ist von mir! Also, mehr oder weniger. So gut wie. Das junge Ding hat ja alles mitgeschrieben.«
»Aha. So langsam fügt sich ja alles für dich.«
»Läuft ganz gut, ja, kann man sagen. Ehrenpreis der Stadt Burgbernbach. Titelmotive auf dem Spiegel. Anfrage vom Economist. Ausstellungen in München, Frankfurt und Berlin. In der engeren Auswahl für die Gestaltung des Jugendstilsaals im Hauptbahnhof Nürnberg. Nicht schlecht für einen disziplinlosen Farbsetzer. Tja. Meine Zeit ist eben reif.«
Disziplinloser Farbsetzer, aha. So hatte ihn seinerzeit der Kunstlehrer des örtlichen Gymnasiums in seiner Funktion als Kunstkritiker der Fränkischen Landeszeitung tituliert. Vor fünfundzwanzig Jahren. Der Stachel sitzt noch tief. Aber Ambrosius hat recht: Seine Zeit ist reif. Nach den vielen langen Jahren als Kneipier, Möbelrestaurator, Hausmaler, Grafiker, Zeichner, Porträtist von Bürgermeistern, Pfarrern und Rektoren – Jahren, in denen Dorothea die Stadtbücherei in Burgbernbach geleitet, den Großteil ihrer gemeinsamen Einkünfte verdient und nebenbei noch zwei Kinder großgezogen und den Haushalt geführt hat – heimst Ambrosius endlich den Ruhm ein, den er schon immer für sich beansprucht hat.
Wenn die Zeit für Ambrosius reif ist, kann sie für Dorothea auch reif sein. Wenn er jetzt endlich gutes Geld verdient, muss sie nicht mehr für ihn sorgen wie für ein drittes Kind, muss nicht mehr immer nur mit dem Wohnmobil nach Italien fahren, nicht ständig hinter Ambrosius aufräumen, nicht mehr nur auf Rolling-Stones-Konzerte gehen, nicht mehr in einem als Holzstoß getarnten Auto fahren, nicht mehr auf seinen unbequemen restaurierten Möbeln sitzen. Sie kann endlich auf sich selbst schauen. Die Gitarre wieder herausholen. Nach Irland fahren. Abnehmen?
»Ambrosius, jetzt hör endlich zu.«
»Klar doch, liebe Thea.« Er lässt die Zeitung sinken und lenkt seinen Blick auf sie.
Jetzt nicht schwach werden. Nur weil ihn der Zeitungsbericht milde gestimmt und er »Thea« gesagt hat. Er sagt entweder Doro oder Thea zu ihr, manchmal auch Dorothea. »Doro« ist für den Alltag, für Fernsehabende, fürs Einkaufen und wenn sie für ihn etwas suchen soll: Brille, Schlüssel oder Geldbeutel. »Dorothea« hält sie auf Armlänge, ist für Zeiten, wenn er eingeschnappt oder sauer auf sie ist, wenn sie mit irgendwelchen Unannehmlichkeiten in seine bequeme, bunte Fantasiewelt einbricht. Mit Rechnungen, Versicherungen, Sachen für die Steuer. Mit dem Leben. »Thea« wird immer rarer, ist immer mehr der Vergangenheit verhaftet, immer legendenumwobener, fast nicht mehr wahr, wie Schnee im Winter. »Thea« ist fürs Bett.
»Ich habe mir Gedanken über unseren Lebensabend gemacht«, sagt sie. »Über meinen Lebensabend.«
»Über deinen Lebensabend?«
Das Telefon klingelt. »Ja, über meinen Lebensabend. Ich habe mir gedacht, dass wir eine Auszeit brauchen.«
»Wie meinst du das? Ich kann jetzt nicht in Urlaub fahren. Es passiert gerade so viel.«
Das Telefon klingelt erneut. Dorothea spricht lauter. »Ich meine eine Auszeit voneinander.«
»Willst du zu deiner Mutter fahren?«
»Meine Mutter ist tot. Seit sieben Jahren.«
»Ach ja.«
Das Telefon klingelt zum dritten Mal. Ambrosius wirft Dorothea noch einen fragenden Blick zu, dann sagt er: »Ich geh ran. Es könnte jemand Wichtiges sein.«
»Siebenhaar«, meldet er sich. Dann hört er eine ganze Zeit lang zu. Sein Gesicht nimmt die langgezogenen, ausdruckslosen, verbarrikadierten Züge an, die es bei Unannehmlichkeiten trägt. Es ist sein Dorothea-Gesicht.
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