Joanna Glen - Die andere Hälfte der Augusta Hope

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Augusta und Julia sind Zwillingsschwestern. Julia ist noch in den letzten Stunden des Juli geboren, Augusta in der Morgendämmerung des ersten August. Obwohl sie gemeinsam auf die Welt kamen, könnten sie unterschiedlicher kaum sein: Augusta sehnt sich in die Ferne, Julia ist zufrieden dort, wo sie ist. Julia ist ruhig und beständig, während Augusta aufgrund ihrer schwirrenden Gedanken und ihres ständigen Reisefiebers «Libelle» genannt wird. Doch so verschieden Augusta und Julia auch sind, sie halten zusammen wie Pech und Schwefel. Bis Augusta ihre Schwester auf tragische Weise verliert. Augusta muss sich neu im Leben zurechtfinden, als ein Mensch, dem viel zu früh eine Hälfte abhandengekommen ist. Doch Augusta, die Libelle, breitet ihre Flügel aus …

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Joanna Glen

Die andere Hälfte der Augusta Hope

Roman

Aus dem Englischen von Stefanie Ochel

Für Mark Charlie und Nina Eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen - фото 1

Für Mark, Charlie und Nina

Eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen,

eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz;

eine Zeit zum Steinewerfen und eine Zeit zum Steinesammeln.

Kohelet 3:4–5

Augusta

Nichts deutete darauf hin, dass meine Eltern mal jemanden umbringen würden. Das würde jeder sagen - bis auf den toten Jungen, der sagt nämlich nichts mehr. Er hat seine Geschichte mitgenommen, über den Rand der Erde hinaus, wie die anderen, die vor und nach ihm gestorben sind.

Diese Geschichte, meine Geschichte, ist irgendwie auch ihre.

Meine Geschichte beginnt wie alle Geschichten mit einer Mutter und einem Vater, nämlich Stanley und Jilly Hope.

Stanley ging immer ein bisschen gebückt, wie um sich für seine Größe zu entschuldigen, und trug gern einen dunklen Wollanzug, dessen Hosenbeine beim Hinsetzen hochrutschten und zwei weiße und komplett haarlose Schienbeine entblößten. Jilly reichte ihm gerade übers Kinn, war knautschig wie ein Marshmallow und Schürzenträgerin. Ihre fahlen Locken, die sie eher erfolglos zu bändigen versuchte, endeten knapp über den Schultern.

Das Haus im Willow Crescent in Hedley Green hatten meine Eltern schon angezahlt, bevor es dort überhaupt Häuser gab. Es war das größte Risiko, das sie je im Leben auf sich nahmen. Alle Ersparnisse gingen drauf für ein schlammiges Stück Erde.

Von da an ging man auf Nummer sicher. Das Leben spielte sich ausschließlich im Willow Crescent ab, unserer halbkreisförmigen Straße mit Rondell in der Mitte, und so lebten sie ihr Leben im Kreis, tagein, tagaus, rundum zufrieden, ohne jemals herauszuwollen.

Ich dagegen wollte, kaum war ich raus aus dem Bauch meiner Mutter, immer nur raus aus allem, wo man mich rein steckte, und versuchte, mit einigem Erfolg, aus Bettchen, Laufstall und Kinderwagen zu fliehen.

Meine erste Flucht (die aus meiner Mutter) verlief nicht ganz reibungslos. Ich hatte mich verdreht und mir dabei die Nabelschnur um den Hals gewickelt, während Julia am 31. Juli kurz vor Mitternacht seelenruhig auf die Welt rutschte. Ich kam erst ein paar Minuten später zum Vorschein, da war es bereits August, und so wurden wir Zwillinge mit verschiedenen Geburtstagen.

Meine Schwester, im Juli geboren, bekam den Namen Julia, ich, im August geboren, sollte Augusta heißen. Das war stringent und stimmig, wie in den zahllosen Namensratgebern empfohlen, die meine Mutter während der langen Monate unseres Heranreifens auf dem Nachttisch gestapelt hatte. Unser doppelter Exit war also vollbracht. Das Wort Exit mochte ich, schließlich hieß ex auf Latein »aus, heraus«, und in Mathematik stand x für alles Mögliche. Und in der Schule hingen überall diese Exit -Schilder in Grün und Weiß, bloß kam man da nie besonders weit.

Stanley und Jilly Hope tendierten mehr zum Drinnen als zum Draußen, zum Bleiben mehr als zum Gehen. Sie waren als Erste in den Willow Crescent gezogen und brüsteten sich damit vor den Nachbarn wie mit einem Verdienstorden. Wir wohnen in Nummer 1. Als würde sie das zu Gewinnern machen.

Mich dagegen beschlich schon früh der Gedanke, dass sie eigentlich Verlierer waren.

»Geh weg!«, befahl ich dem Gedanken, doch er blieb.

Ich habe nie jemandem davon erzählt, nicht einmal Julia, aber sie sah es mir an, und ich wusste, dass es sie traurig machte – und das tut mir heute leid, ich kann gar nicht sagen, wie leid.

Sie und ich waren Schneeweißchen und Rosenrot: Julia, hell, still und zurückhaltend, selbstgenügsam und häuslich, immer ein Summen auf den Lippen; und ich das genaue Gegenteil, dunkel, geradeheraus, mit dem Drang nach draußen und dem Wind im Rücken, immer einen Fluch auf den Lippen.

Unser fünfter Geburtstag, die Vorschule war überstanden. Meine Beine und Arme waren immer schmaler geworden, und inzwischen war ich drei Zentimeter größer als Julia. Wir bekamen Dreiräder, meins war gelb, Julias rosa. Julia zeichnete Kreidelinien auf die Einfahrt und übte den ganzen Tag rückwärts einparken. Ich radelte auf die Straße, bog nach links, den Halbkreis entlang bis zur Nummer 13, quasi bis auf zwölf Uhr, dann über die Straße zum Rondell, wo ich mein Dreirad geradewegs in den Fischteich steuerte, diesmal mit »We all live in a yellow submarine« auf den Lippen.

Im Jahr 1998, da war ich sieben, führten wir mit der Klasse ein Meeresprojekt durch (leider an Land, wie ich enttäuscht feststellen musste) und lernten von Miss April, dass marinus auf Latein »zum Meer gehörend« bedeutet und sub »unter«, daher submarine . Doch als ich mich meldete und die Lehrerin mit »Entschuldigung , Miss, ihr Stift liegt sub dem Tisch« ansprach , meinte sie nur, ich solle mich »nicht immer so aufspielen«.

Ich habe schon immer Wörter geliebt, wie andere Leute vielleicht Bonbons oder Pudding lieben – Wörter, aus Buchstaben gemacht, auf dass aus Lauten Dinge werden, echte Dinge. Was für ein Wunder, dass wir behalten, welche Laute zu welchen Dingen gehören, uns Abertausende von Lautkombinationen merken – denn genau das ist Sprache. Als Kind war ich fasziniert davon und blieb jedes Mal wie verzaubert stehen, wann immer ich jemanden Spanisch, Französisch oder auch Gujarati sprechen hörte.

Irgendwann ging mir auf, dass ich für Ausländer bestimmt genauso schlau klang, wenn ich die englischen Wörter runterratterte wie ein Vollprofi, und das machte mich ein bisschen stolz. Dabei tun wir das ja alle ständig – na ja, fast alle, außer Graham Cook von nebenan. Der brachte irgendwie gar keine Wörter hervor.

»Die Cooks sind wirklich zu bemitleiden«, sagte mein Vater leichthin und ohne eine Spur von Mitleid im Gesicht. »So was kann jeden treffen …«

Ich ging gern nach nebenan und unterhielt mich mit Jim Cook, wenn der in der Auffahrt sein Auto wusch, weil er immer neue Träume in petto hatte. Der Ausdruck kam, wie ich später lernte, von lateinisch in pectore, »im Herzen«. Nur schafften es Jim Cooks Träume irgendwie nie aus seinem Herzen ins wahre Leben.

An Tagen, wenn Grahams Pfleger kam, nahm Barbara Cook mich und Julia oft mit ins Schwimmbad, da die Arme, wie meine Mutter mir erklärte, gern auch mal ganz normale Dinge auf ganz normale Weise tun wollte. Ich wollte die Schwimmbadbesuche für Barbara Cook immer so schön wie möglich machen, auch wenn die eigentlich nie darüber sprach, wie es ihr ging.

Eines Tages fand ich nach dem Schwimmen meinen Rock und meine Unterhose nicht wieder. Als ich nur im roten T-Shirt und unten ohne zu Barbara in die Umkleidekabine ging, rief sie aus: »Ha, Augusta, du siehst ja aus wie Pu der Bär!«

Und sie lachte, bis ihr Tränen über die Wangen liefen, und wickelte mir mein nasses Handtuch um die Hüfte. Mir glühten die Wangen vor Scham, als ich so neben ihr zum Parkplatz stolperte.

Ich wollte Barbara Cook mögen, und ich mochte sie auch, vielleicht hatte ich sie sogar lieb, also wollte ich mir nichts draus machen, dass sie mich auslachte, als ich mich sowieso schon schämte. Ich lernte an diesem Tag eine wichtige Lektion: dass auch die Menschen, die wir mögen, vielleicht sogar lieb haben, uns früher oder später enttäuschen – und umgekehrt tun wir das auch.

»Warum hat Barbara mich ausgelacht?«, fragte ich Julia, als wir wieder zu Hause waren.

Julia zuckte die Schultern und frickelte weiter an der dicken Schnur, die aus dem Kopf einer bunten Strickliesel kam. Ich hasste dieses Ding. Ich hatte selbst auch so eins. Allerdings noch verpackt. Eingesperrt in einem stickigen Karton. Wie wir alle.

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