Friedhelm Zühr
DER FREMDE UND DIE ANDERE
Roman über Sein und Zeit
Leipzig
2016
Für meine Frau Kornelia
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.deabrufbar.
Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Titelbild: vacaciones en el mar © kesipun (FOTALIA)
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
Cover
Titel Friedhelm Zühr DER FREMDE UND DIE ANDERE Roman über Sein und Zeit
Widmung Für meine Frau Kornelia
Impressum Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig Alle Rechte beim Autor Titelbild: vacaciones en el mar © kesipun (FOTALIA) Hergestellt in Leipzig, Germany (EU) www.engelsdorfer-verlag.de
Die Farm Wahrscheinlich sind es Fische, die uns überleben, und die Vögel. (Max Frisch)
Der Fremde
Schiffbrüchig
Auf den Kalksteinklippen
Fiona
Der Blick
Zeitterroristen
Zeiterfahrungen
Eine Beichte
Die Flaschenpost
Epilog
Wahrscheinlich sind es Fische,
die uns überleben, und die Vögel.
(Max Frisch)
Die Farm lag im einsamen Nordwesten der Insel.
Am Ende der Welt. Schafherden, Kühe, raue Felsen, Steinwälle, endloses Geröll.
Das atlantische Meer nur ein paar Steinwürfe entfernt, eine Ahnung von der Neuen Welt, endlos, weit im Westen des Ozeans. Wie bedeutend war hier die Zeit?
Vom Fenster der Kammer waren bei gutem Wetter die drei Aran-Inseln zu erkennen.
Das Farmhaus, ein niedriges, weißgetünchtes Steingebäude mit tief angesetzten Fenstern, zwei Türen und einem Reetdach.
Einige Anbauten für Saisonarbeiter oder Feriengäste kamen mit der Zeit hinzu.
Die Kammer war eine von einem halben Dutzend, wo sonst Schüler untergebracht waren,
die in den Ferien bei der Schafschur oder beim Füttern halfen, auch ausländische Studenten, die sich etwas dazu verdienen wollten und den „Zauber der Insel“ einfangen wollten, wie sie – reichlich kitschig – ihren Aufenthalt hier begründeten. Sie holten diese Romantik zumeist aus Reisemagazinen, wobei sie sich ehrfürchtig den Klischees unterwarfen.
Dem Fremden aber war die viel gerühmte Landluft und deren Segen egal, er wollte – oder musste – endlich seine Dissertation zu Ende bringen! Er war ein recht träger Mensch. Aber faul?
Eigentlich nicht, er arbeitete schon hin und wieder, dann aber wie ein Besessener!
Er agierte zum rechten Zeit, ließ sich Zeit, zeitlebens.
Nur das ungefähre Thema schwebte ihm vor, ihm, dem Doktoranden der Biologie, Spezialfach Verhaltensforschung: exotische Tiere. „Das Verhalten der Faultiere in der Gefangenschaft.“
Na ja. Immerhin. Die Witzeleien seiner Kommilitonen störten ihn nicht, zumindest ließ er sich nichts anmerken. Wie der Fremde sich überhaupt selten Gefühle anmerken ließ.
Sein Freund – damals hatte er noch Freunde – hatte ihn gedrängt, doch endlich irgendeine schriftliche Arbeit fertigzustellen. Er agierte mit psychologischen Mitteln: Ihn erwarte doch eine glänzende akademische Laufbahn, er rühmte sein Talent, die Fachwelt erwarte etwas von ihm.
Alles nur Gerede. Er ließ sich von dem Geschwätz nicht beeindrucken, es erreichte ihn nicht, wiewohl es ihm lästig war, ihn wurmte, denn es drohte ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ja, er war süchtig nach Harmonie. Streit und Zank ging er auch nur dem Ansatz nach aus dem Weg.
Wenn er beim Schach oder beim Kartenspiel gewann, was recht häufig vorkam, entschuldigte er sich beim Mitspieler, lobte dessen Spielstärke, spielte den eigenen Sieg herunter.
Alles gut, wir bleiben Freunde. Er wollte einfach seine Ruhe haben.
Ja, er hatte jede Menge Ideen und Fantasien rund um seine Generalthemen: Müßiggang, Faulheit, Langeweile, Entschleunigung – Zeit. Er wollte sie durchaus einmal – wann? – zu Papier bringen
Doch dazu brauchte er eben – Zeit. Und er konnte sich ewig nicht auf ein konkretes Thema für seine Arbeit festlegen, er brauche Ruhe, Muße.
Der Freund – war er ein Freund? Vielleicht eher ein guter Kumpel? – drängte.
Der Farmersohn aus dem rauen Nordwesten der Insel ließ sich nicht mehr von Ausflüchten des Zeit-flüchtigen beeindrucken: Du wohnst auf der Farm und arbeitest endlich. Basta.
Und den Scherz, dass er kein Faultier sei, konnte er sich dabei nicht verkneifen.
Mein Onkel hat eine Schaffarm. Da ist Platz für dich und deine Flausen, die dir bei Land – und Seeluft bald ausgetrieben werden. Außerdem brauche der Onkel eine kräftige Hand im Stall oder auf der Weide. Er habe schon mit ihm gesprochen. Kost und Logis sei ihm sicher.
Er könne gleich losfahren und endlich arbeiten. Im Frühjahr könne er seine Dissertation dann einreichen. Dem ewig Unschlüssigen blieb nichts weiter übrig. Wie gesagt: Er ging möglichem Streit schon dem Ansatz nach aus dem Weg. Er packte den Koffer und fuhr.
Was ihm sofort bei der Ankunft auffiel, war etwas zunächst Unauffälliges.
Es war eine Scheune, die kurz vor dem Abriss gestanden hatte, nur noch nützlich, vielleicht die Deckenbalken, Bretterwände und Stützen irgendwie zu verwenden. Sei es als Brennholz, für einen Zaun, für ein Gehege für Jungschafe.
Man war nur noch nicht dazu gekommen. Die Scheune störte ja weiter nicht, sie stand nur herum, Relikt einer vergangenen Zeit, deren Bauherren längst das Zeitliche gesegnet hatten.
Zudem hatten der Onkel und seine beiden Söhne den lieben langen Tag alle Hände voll zu tun.
Der Freund des Neffen war geduldet, man war sogar neugierig auf diesen bunten Vogel.
Einmal hatte der Farmer ihn bei der Arbeit am Laptop über die Schulter geschaut.
Der Stadtmensch schreibt über irgendwelche Exoten, über Faultiere in der Gefangenschaft.
Komischer Vogel. Man spottete abends beim Feierabendwhiskey: Schreibt er über sich?
Man ließ ihn tun, machte hin und wieder Witze über ihn. Aber so harmlos erschien er ihnen auch wieder nicht. Der Fremde erregte eine leichte Spur Argwohn, eben weil er ein Fremder war.
Er stand unter Verdacht, keinen bestimmten, nein, aber man würde ein Auge auf ihn haben.
Sie misstrauten ihm, nein, nicht direkt, eigentlich war es ein Misstrauen allem Fremden gegenüber, vorsichtshalber, als Schutz, als Abgrenzung. Man war sich selbst der Nächste.
Sie ließen sich den Argwohn nicht anmerken. Ohnehin war es bei diesem Menschenschlag überhaupt schwierig, etwas anzumerken oder zu entdecken.
Sie waren unnahbar und schweigsam.
Nein, das Volk hier oben im wilden Nordwesten war nicht für besondere Redseligkeit bekannt. Sie machten das Maul nicht auf. Und wenn, dann hörte der Fremde da ein Gemisch aus der an Idiomen reichen Landessprache und jenem harten, für fremde Ohren unangenehm klingenden Gälischen. Der studierte Fremde aus der Stadt ahnte allenfalls, was gemeint war, was zuweilen mehr sein kann als das Verständnis bloßer Worte. Aber seltsam: diese Ahnung bereitete dem Fremden ein ungutes Gefühl.
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