Eine Whiskeyflasche machte die Runde. Es wurde recht lustig an jenem Abend, man trank, rauchte, schwatzte und ging erst spät ins Bett. –
Doch es regnete unaufhörlich: tagelang, nun schon zwei Wochen.
Die dritte Regenwoche begann.
An eine Arbeit draußen war nicht mehr zu denken, die Schafe blökten im Stall, der Hof war aufgeweicht, die Wege schlammig, Wasserlachen, der Busverkehr wurde eingestellt.
Mit dem Auto kam man nur noch schwer durch – bis dann gar nichts mehr ging.
Nun saß man immer häufiger abends in der Küche, trank, lachte; ein Lachen, das gar nicht mehr so fröhlich klang.
Melancholie, Traurigkeit schlichen sich ein, Stimmungen, die ohnehin hier oft zu Besuch waren, nun wurden sie Stammgäste. Abend für Abend. Man saß herum und tat nichts. Man starrte auf einen Punkt, den es anscheinend nur für sie gab.
Erinnerte man sich an die gewaltige Springflut vor mehr als einem halben Menschenalter?
Sie verschlang dutzende Gehöfte, zerstörte unzählige Existenzen. Entsetzlich.
Jahre her. Die Zeit heilt alle Wunden? Natürlich nicht.
Die Angst, ein namenloses Grauen, blieb in den Schädeln der schweigsamen Männer.
Die Langeweile schlich sich immer bedrohlicher heran, sie hatte bald alle im Griff.
Was sollte man auch tun den langen Tag lang? Der verdammte Dauerregen hatte sie eingesperrt wie die Schafe drüben im Stall. Ja, sie glichen einer Herde trübsinniger Schafe.
Und wenn sie ihre Schädel erhoben, sahen sie seltsamerweise den studierten Stadtmenschen an. Was erwartet man von ihm?
Eine Unterhaltung, ein Spielchen, um die Zeit zu vertreiben, um die Ecke zu bringen, totzuschlagen? Schrieb er nicht über Faultiere, diese Zeitterroristen? Wusste er einen Ausweg, gar eine Erlösung? Könnte doch sein. Der Fremde war ratlos. Was wollen sie von mir? Er wusste es nicht. Er spürte lediglich einen Erwartungsdruck, unbestimmt, namenlos.
Endlich war ihm eine Idee gekommen: Die alte Bibel.
Am nächsten Abend brachte er sie mit, zeigte sie dem Farmer. Der nickte nur, er zeigte keine Überraschung. Der Fremde las aus ihr vor. Zu seinem Erstaunen hörten ihm alle zu, langweilten sich anscheinend nicht, sie ließen es sich zumindest nicht anmerken.
Sie schwiegen, starrten ihn an, die Blicke auf seinen Mund gerichtet – und hörten zu.
Er las über die Sintflut, über die Arche Noah, auf der sich bekanntlich allerhand Tiere – auch Schafe – drängten. Textpassagen, die einst ein Vorfahr mit dicken Ausrufezeichen versehen hatte.
Und draußen trommelte der Regen gegen die Fensterscheiben. Geschichten, die er immerfort wiederholen musste. Und der Regen war die monotone Begleitmusik dazu.
Zunächst wunderte er sich. Warum faszinierten sie gerade diese Geschichten?
Nur weil es regnete? Erst als er aus dem Neuen Testament vorlas, ahnte er es.
Er las aus dem Evangelium des Markus, über Jesus Christus, der sich in Golgatha kreuzigen ließ.
Am Erlöserkreuz. Na, eben die altbekannte Geschichte, seit Jahrhunderten erzählt.
Aber dieser Passagen fanden besonderes Interesse, ja Zustimmung.
Die Männer nickten versonnen vor sich hin.
Die Kreuzigung, die Erlösung, die Kreuzigung, die Erlösung, murmelten sie dumpf vor sich hin.
Dumpf geworden vom Whiskey, von der Langeweile, von der Trostlosigkeit um die Farm herum, die in der alttestamentarischen Sintflut unterzugehen drohte.
Ja, und gerade an jenem Abend waren alle Schafe in den Ställen jämmerlich ertrunken, eine Holzwand hatte dem Druck der Wassermassen nicht standgehalten, die Schleusen waren gleichsam gebrochen. Ihre Existenz vernichtet. Sie sahen keinen Ausweg mehr.
Es wurde kein Wort mehr gewechselt. Nur noch stumme Blicke.
Irgendwas mussten sie planen! Dem Fremden wurde es allmählich nicht geheuer.
Irgendetwas stimmte nicht. Braute sich da etwas zusammen?
Die Stimmung war unbestimmt, unerklärlich, namenlos und dadurch gefährlich.
Er spürte es, war beklommen, ein ungutes Gefühl, gelinde gesagt.
Am nächsten Abend las er wieder vor, stockend, immer wieder sich verhaspelnd.
Schließlich meinte er, es ginge ihm nicht gut.
Und die Männer nickten. Er spürte dankbare Blicke. Doch sie beunruhigten ihn.
Er ging in seine Kammer. Nur kurz wechselte er mit Fiona Blicke.
Sie war blass, wirkte verstört, sie hatte längst kein Wort mehr gesagt, von Heiterkeit oder gar Spott keine Spur. Sie sagte nur leise, sie müsse nun auch schlafen gehen.
Um Mitternacht klopfte es leise an der Kammertür des Fremden. Er wunderte sich, doch schon etwas ängstlich öffnete er.
Fiona. Im weißen Pyjama, das rote Haar hing wirr auf die Schultern.
Sie zog sich aus. Der Fremde bemerkte eine silberne Kette mit einem Kreuz um ihren Hals. –
Sie verbrachte die ganze Nacht mit ihm, nackt, sich anschmiegend wie eine Katze, noch unschuldig.
Gerade mal 16 oder 17 Jahre alt. Er hatte schon mit einigen Frauen geschlafen. Keine mit grünen Augen wie ihre. Der Blick.
Wie eine Katze, die rätselhaft Menschen ansieht, seelenruhig, ohne den Kopf zu wenden oder mit den Wimpern zu zucken, gleichmütig, scheinbar seelenruhig, das Gesicht ihm frontal zugewandt.
Er würde den Blick niemals vergessen, war er sich damals sicher. Und Fiona zeigte sich im Bett beweglich, behände, katzengewandt. Sie sagte nichts, kein Seufzer, kein wollüstiges Stöhnen.
Nur dieser stumme Blick, nicht von der Seite, schielend, sondern immer frontal ihm zugewandt. Rätselhaft für ihn, nicht entschlüsselbar. Sie gab sich ihm hin, unerfahren, instinktiv, ausdauernd. Erst am Morgen ließen sie voneinander.
Fiona schlich sich nackt aus seiner Kammer, nicht ohne sich noch einmal umzudrehen.
Sie flüsterte: Er solle bald verschwinden. Es geschähen seltsame Dinge, es liege etwas in der Luft. Er sei in Gefahr, sie spüre es!
Fiona sah aus dem Fenster. Irgendwo da draußen lagen die Aran-Inseln, verborgen von einer grauen Regenwand.
„Eine einsame Insel wäre mein Traum.“
„Ein Dasein wie einst Robinson Crusoe? – Nein, ein Ortswechsel hilft uns nicht aus unserer Haut“, meinte der Fremde reichlich altklug.
Sie seufzte, zuckte nur mit den Schultern
„Mach’s gut, Sloth.“ In ihren Augen waren Tränen.
Fiona war am frühen Morgen verschwunden. Mitten im Regen hatte sie sich davongemacht.
Der Fremde erkundigte sich nach ihr. Doch die Männer schwiegen.
Der Fremde ging in seine Kammer, er packte seinen Koffer, er hatte hier nichts mehr zu suchen.
Am nächsten Morgen wollte er aufbrechen.
Er legte sich auf sein Bett, unruhig, voller Vorahnungen.
Er hörte in der Nacht durch den rauschenden sintflutartigen Regen hindurch dumpfe Hammerschläge. Sie kamen aus Richtung der baufälligen Scheune, die schon längst hätte abgerissen werden müssen. Dann vernahm er helle Hammerschläge auf dem Hof, so als würden Nägel in Holz getrieben. Was war da los?
Am Morgen mühte er sich schlaftrunken die Treppe herunter. Er stand in der Küche.
Da standen sie, die drei erwachsenen Männer, der Farmer mit seinen Söhnen.
Sie bildeten ihm ehrfurchtsvoll Spalier.
Der Fremde erschrak. In der Küche stand der Pfarrer Lynch mit dem Schafgesicht, er murmelte irgendwelche Worte vor sich hin. Worte wie Erlösung, Kreuzigung, Sünden.
Was will der denn plötzlich hier? Was ist hier los?
Die Männer machten Platz, verhöhnten den Fremden, spotteten, bespien ihn.
Wie einst römische Soldaten den Heiland Jesus Christus.
Und dann ging der Fremde mit unsicheren Schritten durch das Spalier zum Fenster.
Von der Scheune war nur noch ein Skelett geblieben, ohne Dach, ohne Wände.
Die Männer hatte Balken und Bretter herausgerissen, um das Kreuz aufzurichten.
Seine Kreuzigung war vorbereitet!
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