Unbegreiflicherweise hängte meine Mutter Julias Strickschnur an die Kordel der Badezimmerlampe, allerdings fiel sie unter dem restlichen Deko-Klimbim auch nicht weiter auf. Mit dabei: Schmetterlinge aus Krepp, Papier-Mobiles an Kleiderbügeln, Häkeldeckchen an Fenstern, Magnetbildchen am Kühlschrank – das ganze Haus ein Schrein für uns, die Zwillinge, ihre Mädchen.
Mehr Kinder kamen nicht.
»Warum das Glück herausfordern«, sagte mein Vater, »wenn man zwei perfekte Kinder hat?«
»Perfekt findest du uns?« Julia lächelte und rekelte sich auf dem Sofa wie eine Katze, mit dieser wunderbaren Aura der Zufriedenheit, die sie umgab wie ein riesiger, menschenförmiger Heiligenschein.
»Ohne Komplikationen, meine ich«, sagte mein Vater und nickte in Richtung von Nummer 2, wobei er Julia seine kleine blasse Hand auf die Schulter legte. »Geistig voll da. Nicht … Na, ihr wisst schon.«
Er beschrieb mit dem Zeigefinger Kreise an der Schläfe.
Meine Mutter klopfte sich die Hände an der Schürze ab und betrachtete uns wie zwei Kuchen aus ihrer Produktion, die wirklich prächtig geraten waren.
»Graham Cook ist voll da «, rief ich und war außer mir. »Was musst du da mit dem Finger rumkreiseln? Und was glaubst du, wie seine Eltern das fänden? Und was zum Teufel soll perfekt überhaupt bedeuten – die Leute, die du so perfekt findest, machen nämlich dann doch die …«
»Kannst du mal langsamer reden, Augusta? Ich komm gar nicht so schnell mit.«
»… allerschlimmsten Sachen.«
Ich redete weiter, denn ich hörte mich wahnsinnig gern reden, obwohl ich gerade erst sieben war, und malte mir immer aus, wie schlau ich erst klingen würde, wenn ein Ausländer zuhören würde. Jemand, der nicht aus unserem langweiligen Land kam, dieser Insel auf einem grauen Ozean, sondern aus einem der vielen anderen Länder der Welt, wo sie bessere Meeresfarben hatten, nämlich Türkis und Aquamarin und Azurblau.
Wie man sieht, war ich nicht von Julias Aura der Zufriedenheit umhüllt. Ich weiß nicht, warum. Ich schätze, wir waren einfach verschieden gestrickt, sie und ich.
Ich war so gestrickt, dass ich unbedingt ein Buch schreiben wollte. Schon seit ich denken konnte.
Erst aber wollte ich mir so viele Wörter wie möglich einprägen, denn ich wollte präzise schreiben und mit ordentlich Wumms – ein Wort übrigens, das das Wörterbuch gar nicht kennt.
Ich schlug das Wörterbuch beim A auf und arbeitete mich bis Zytotoxizität durch alle Buchstaben des Alphabets, sprach die Wörter laut aus, prägte sie mir ein und probierte sie in neuen, ausgefallenen Kombinationen. Dann ging ich zurück zum A.
Im Durchschnitt gebrauchen die Leute beim Sprechen im Alltag nur 5000 Wörter und beim Schreiben doppelt so viele; ein gebildeter Mensch kann es auf 80000 bringen, und das zwanzigbändige Oxford English Dictionary umfasst 171476 Haupteinträge für Wörter im aktiven Gebrauch, 47156 für veraltete Wörter und zusätzlich 9500 Unterpunkte für Ableitungen.
Eines Morgens in der Bücherei von Hedley Green nahm ich mir vor, den schönsten Ländernamen zu finden, wobei ich nur nach dem Klang gehen würde, ohne etwas über das Land zu wissen.
Eigentlich hätte ich bei einer Puppenwerkstatt mitmachen sollen, aber ich verdrückte mich, sodass Julia gleich zwei Schlangen mit Plastikaugen und Filzzungen aus Ringelsocken basteln musste. Nicht so mein Fall.
Ich schlich mich an Jean, der Bibliothekarin, vorbei, die die Angewohnheit hatte, sich die Haare auszurupfen. Mit einem Atlas setzte ich mich zwischen die Regale, las das Register von von A bis Z durch und kam zu dem Schluss: Der beste Name für ein Land war Burundi.
Burundi Burundi Burundi. Ich sagte mir den Namen so oft vor, bis er gar nichts mehr bedeutete. Er schwappte nur noch wie Wellen durch meinen Kopf.
Ich ging in die Ecke der Bibliothek, wo ein großer Globus auf Rädern stand, und ich fand Burundi, ein Binnenland in Afrika, zwischen Tansania, Ruanda und der Demokratischen Republik Kongo. Ich drehte den Globus langsam herum und versuchte dabei, mir Namen und Lage und Grenzen der Länder einzuprägen und welche Formen sie mit dem Meer und miteinander bildeten. Dann drehte ich ihn immer schneller, bis alles zu einem grün-blauen Streifen verschwamm, und stellte mir dabei vor, wie ich mich mitdrehte, als nadelstichkleiner Punkt in der Hedley-Green-Bücherei in Südengland. Und ich dachte, eigentlich müssten wir doch alle von der Erde runterfallen – ich, Julia, die Puppenbastellehrerin und alle Ringelsocken.
Bei meinen Recherchen über Burundi in den Lexika und Sachbüchern fand ich heraus, dass die Hutu, die zuerst da gewesen waren, von den Tutsi verachtet wurden – obwohl sie alle die gleiche Bantusprache Kirundi sprachen, die gleiche Hautfarbe hatten und Christen waren. Irgendwann waren europäische Männer auf Schiffen gekommen und hatten gesagt, die Hutu sollten sich um die Rinder der Tutsi kümmern. Um die sehr lange Geschichte zusammenzufassen: Am Ende wollten sie sich am liebsten alle gegenseitig umbringen. Ich war bestürzt darüber, wie traurig und sinnlos das war – und dann darüber, wie viele andere traurige und sinnlose Dinge Menschen auf der Erde anstellten. Also wandte ich mich dem Himmel zu.
Am Anfang meiner Recherchen über den Himmel erschien mir eine Wolke als etwas Simples – ein schwebender Wasserdampfbausch, mehr nicht. Aber je mehr ich las, desto mehr bedeutete Wolke . Die fünf Buchstaben waren elastisch, und sie dehnten sich in meinem Kopf mit den Jahren immer weiter, bis mir klar wurde, dass wahrscheinlich irgendwo jemand seine Doktorarbeit über Wolken schrieb, oder über einen klitzekleinen Aspekt von Wolken, und dass dieser Aspekt vielleicht ein Leben lang die Hälfte seines Gehirns beanspruchen würde.
Mir wurde schwindlig, als ich erkannte, was alles in dem schlichten Wort Wolke steckte. Und als ich erkannte, dass das für alle Wörter galt. Mir war schwindlig, und ich fühlte mich winzig, wenn ich die Wolken vorbeiziehen sah, und sie kamen mir vor wie Sprechblasen. Mit den Jahren verbrachte ich immer mehr Zeit zwischen den Wörterbuchregalen der Bücherei und platzierte neue Wörter in den Sprechblasen, Wörter, die mir besonders gefielen, in alphabetischer Reihenfolge, von A bis Z. Admiral, Aeronaut, Akanthus, Bergamotte, Bohnenstange (ich), Calypso, Chrysantheme, Clou. Ich dachte über die Größe der Wörter nach – oder sollte ich sagen, ihre Tiefe und den Raum, den sie einnahmen? Es ging dabei nie um die Zahl der Buchstaben, sondern darum, welche Art Ding oder Dinge in ihnen enthalten waren.
Ich dachte an die Tausende und Abertausende von Wörtern mit ihren Tausenden und Abertausenden von Bedeutungen, und ich begriff, was ich am Ende meines Lebens wissen würde: fast nichts. Aber mein Fast-Nichts wäre bestimmt ein anderes als das Fast-Nichts der anderen Menschen, und alle zusammen wüssten wir dann ein bisschen mehr als fast nichts. Und dann käme natürlich der Tod, und alles, was wir rausgefunden hätten, würde mit uns begraben werden. Was für eine sinnlose Verschwendung. Sollte man uns nicht erst auf den Kopf stellen und unser ganzes Wissen rausschütteln – wie die Münzen aus einem Sparschwein?
Noch tagelang trug ich Burundi auf der Zunge, kaute auf dem Wort herum wie auf Kaugummi. Burundi, so fand ich heraus, war ein großes, raumgreifendes Wort, und es dehnte und dehnte sich weiter. Denn Burundi bedeutete Millionen Dinge.
Es umfasste 27816 Quadratkilometer, ein großer Teil davon hügelig und bergig und zehn Prozent Wasser, hauptsächlich im gigantischen Tanganjikasee mit seinen 250 Arten von Buntbarschen in allen Regenbogenfarben.
In Burundi lebten etwa zehneinhalb Millionen Menschen – Hutu (85 Prozent), Tutsi (14 Prozent) und Twa (1 Prozent) – und die meisten von ihnen waren traurig. Es gab kaum noch fruchtbaren Boden im Land, kaum noch Bäume in den Wäldern, und wer nicht von den anderen umgebracht wurde, starb an Aids.
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