»Vier.«
»Drei.«
»Zwei.«
»Noch einen Monat.«
Wenn wir in Urlaub fuhren, installierte mein Vater im ganzen Haus Zeitschaltungen an den Lampen, die perfekt unseren Lebensrhythmus nachahmten, und kontrollierte sie vor der Abreise gut fünf Mal und dann noch einmal zur Sicherheit. Als ich einwandte, ich hätte im Willow Crescent noch nie irgendwelche Einbrecher herumlungern sehen, erklärte er, die liefen ja nicht im gestreiften Hemd mit Beutesack auf dem Rücken herum – jeder könne ein Einbrecher sein, sogar Leute, die wir kannten und mochten, sogar Nachbarn aus dem Willow Crescent.
»Sogar Barbara Cook?«, fragte ich.
»Barbara Cook natürlich nicht.«
»Du bist doch bei der Nachbarschaftswache«, sagte ich. »Müsstest du nicht längst wissen, wenn unter unseren Nachbarn Einbrecher sind?«
»Jetzt lass deinen Vater in Ruhe, siehst du nicht, wie beschäftigt er ist?«, sagte meine Mutter mit ihrem Urlaubsleuchten in den Augen. Sie fürchtete wohl, wegen meiner dreisten Art würden ihm gleich wieder die Hände zittern. Das taten sie manchmal, gerade am Tag der Abreise, wenn seine Nerven zum Zerreißen gespannt waren.
Ab September begann meine Mutter mit ihren Besuchen im Reisebüro. Sie achtete auf die Werbeständer vor dem Zeitungsladen. Sie durchforstete die Sonntagszeitungen. Sie las auch die Schulzeitung mit den Angeboten für Ferienhäuser und Wohnwagen.
Julias Gedicht wurde auch in der Schulzeitung veröffentlicht. Meine Mutter schnitt es aus und rahmte es ein, und mein Vater nagelte es an die Wand. Julia legte mir ein Werther’s-Toffeebonbon unters Kopfkissen mit einem Zettel, auf dem stand: »Du bist die wahre Dichterin in der Familie.«
Ich kaute in aller Bescheidenheit darauf herum und nahm es hin, als Julia (nicht zu Unrecht) sagte: »Mein Gedicht ist eigentlich ziemlich mies.«
Ich wollte entgegnen: »Nein, ist es nicht«, doch ich brachte es nicht über die Lippen. Julia hätte sowieso gewusst, dass es komplett geschwindelt war.
So ist das bei Zwillingen, vielleicht bei allen Geschwistern. Man kennt das Äußere der jeweils anderen, kennt den Körper, mit dem man jeden Abend badet, bis man irgendwann zu groß ist, um zu zweit in die Wanne zu passen. Ab da sitzt die eine auf dem Toilettendeckel und plaudert so lange mit der anderen in der Wanne, bis man heißes Wasser nachlässt und die Plätze tauscht.
Du kennst den kleinen Leberfleck auf Julias rechtem Oberarm und die dunkle Sommersprosse auf dem linken Ringfinger, dank der sie ihre Rechte von ihrer Linken unterscheiden kann, und ihr Innerstes kennst du genauso gut. Du spürst ihre Tränen, bevor sie fließen – und du willst sie aufhalten, so dringend willst du sie aufhalten, doch du kannst es nicht, so ist es nun einmal. Du hörst ihr Lachen, bevor es erklingt, und wenn du ihr Lachen hörst, musst du auch lachen. Ihr schönes, helles Lachen.
So gesehen ist dein Zwilling dein Zuhause.
Zumindest war das bei mir so.
Viel mehr als mein sogenanntes Zuhause.
Was für ein Wort: Zuhause – Millionen von Bedeutungen, eingewickelt in ein Riesentuch, das wir wie ein Wanderbündel an einem Stock über der Schulter tragen.
»Hast du nicht auch ein Gedicht geschrieben, Augusta?«, fragte meine Mutter.
Ich nickte.
»Das musst du mir zeigen«, sagte sie.
»Ach, ist nicht so wichtig.«
»Ich finde es sehr wohl wichtig«, sagte meine Mutter, woraus folgte, dass ich mein Heft holen musste. Was ich absolut nicht wollte.
»Hier«, sagte ich. »Miss Rae hat es nicht so gefallen.«
» Natürlich hat es ihr gefallen«, sagte meine Mutter, die das natürlich überhaupt nicht wissen konnte.
Ich gab meiner Mutter das aufgeschlagene Heft und sie las:
»Der Name meiner Mutter« von Augusta Hope
Meine Mutter heißt Jilly,
angeblich ist das die
Kose-Kurzform von Jill
nur eben ein Ypsil-
on länger und wenn man nur will
warum nennt man nicht Dill,
(wenn man ihn mag)
Dilly,
das Lieblingsfossil
Fossily,
(oder wär das Fusilli?)
und den netten Prof
Dr. Phily,
aber jetzt bin ich lieber stilly.
Darunter hatte die Lehrerin geschrieben:
»Das ist ein ziemlich merkwürdiges Gedicht, Augusta, und das Reimschema ist unregelmäßig. Gut!«
Meine Mutter starrte auf den Kommentar der Lehrerin.
Dann auf die graue Linie darunter. Sie versuchte, die Überreste einer Schrift zu entziffern, und fragte sich wohl, was um alles in der Welt sie zu diesem seltsamen Gedicht sagen sollte.
Unter den Kommentar der Lehrerin hatte ich geschrieben:
» Nur z. K . (das stand, wie ich herausgefunden hatte, für zur Kenntnisnahme ): Das sollte gar kein regelmäßiges Reimschema sein.« Dann hatte ich es ausradiert. Ich wusste, es war zwar richtig, aber auch ziemlich frech – und altklug.
Meine Mutter schaute immer noch angestrengt auf die ausradierte Zeile.
»Was stand hier?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht mehr«, sagte ich.
»Dein Gedicht ist …«, begann meine Mutter und brach dann ab.
»Schon gut«, sagte ich. »Es muss dir nicht gefallen. Es ist wirklich etwas merkwürdig.«
»Manchmal frage ich mich, was da die ganze Zeit in deinem Köpfchen vorgeht«, sagte meine Mutter.
Mein Gedicht hat sie nicht eingerahmt.
Meine Mutter hieß Aurore, was Morgenröte bedeutet.
Und mein Mutterland, das immer noch auf seine Morgenröte wartet, heißt Burundi.
Burundis Poesie lebt in den Kolibris, die aus langen Blüten Nektar saugen, im satten Grün der Blätter nach dem Regen, den schillernden Buntbarschen in den Tiefen des Tanganjikasees, wo die Krokodile reglos und trügerisch dahindösen und die Nilpferde in Reih und Glied flussabwärts paddeln.
Und sein Geist lebt in den würdevollen Gesichtern all derer, die vergeben wollen, im festen Glauben, dass Burundi eines Tages wieder schön sein wird.
Gesichter wie das meines Vaters.
Ich war sein erster Sohn, und er betete, dass endlich Frieden herrschen würde, wenn ich erst groß wäre.
»Du bist schon mit einem Lächeln zur Welt gekommen«, sagte er zu mir. »Und du warst so perfekt. Alles, wovon wir geträumt hatten.«
»Also haben wir dich Parfait getauft«, sagte meine Mutter.
»Parfait Nduwimana«, sagte mein Vater (was Ich bin in Gottes Hand bedeutet).
»Ein wunderschönes Baby warst du«, sagte meine Mutter, »mit den kleinen Grübchen auf den Wangen.«
»Was soll an Grübchen schön sein?«, fragte ich.
»Ach, alles!«, antwortete sie, kam auf sehnigen Beinen auf mich zugehüpft und strich mir über die Wange.
Meine Mutter – sie erinnerte mich an einen zarten Vogel.
Bei jeder Gelegenheit beobachtete ich Vögel: den Wiedehopf, den Haubenzwergfischer und das Pfirsichköpfchen, meinen absoluten Liebling – ein kleiner Papagei im Regenbogenkleid, der immer im Flusslauf oberhalb unseres Gehöfts sein Bad nahm.
»Der Vogel da ist so …«, sagte ich.
Und mein Vater ergänzte: »Unnötig, irgendwie.«
Das ist Schönheit wohl immer.
Dass ich ohne sie nicht leben kann, fand ich erst später raus.
Dann sagte mein Vater: »Unnötig extravagant.«
Ich sagte: »Was heißt das?«
»Das hier«, sagte er, drehte sich im Kreis und deutete auf alles in der Umgebung, den Himmel und die Bäume und das klare Wasser über den Kieseln.
Meine Familie wusch sich weiterhin in dem kleinen Flusslauf, wie die Vögel.
Am Anfang waren wir zu neunt.
Die Zwillingsmädchen: Gloria und Douce, die am liebsten in den glitzernden Brautjungfernkleidchen herumtanzten, die die Baptisten in Plastiksäcken mitgebracht hatten.
Die Zwillingsjungen: Wilfred, benannt nach einem englischen Missionar, der mal auf unserer colline lebte (und später dort auch starb), und Claude, benannt nach einem französischen.
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