Man konnte diese Theorie im normalen Duktus eines wissenschaftlichen Fortschrittes nicht gut mitsamt ihren Forschungserfolgen einfach ad acta legen, ohne einen angemessenen Ersatz zu beschaffen, also ohne das, was man in diesem Rahmen erforscht hatte, in einen neuen Theorierahmen zu überführen. Das ist dann jedoch nicht geschehen, und deshalb ist mein Eindruck, dass wir bestimmte Dinge verloren haben, das heißt, dass wir mit dem Verzicht auf den Strukturfunktionalismus, auf die Limitierung von Forschung durch Bestandsvoraussetzungen, gewisse Erkenntnisse einfach aufgegeben haben und dass wir noch nicht wieder in der Lage sind, diese Gewinne in einen anderen Theoriesatz einzubauen. Die Soziologiegeschichte hat es deshalb nicht nur mit ihren Klassikern zu tun, die das Fach, wenn man so sagen darf, begründet haben, sondern auch mit einer relativ erfolgreichen, auch interdisziplinär angesehenen Forschungsweise, die in den 40er-, 50er-Jahren vor allem in Amerika gepflegt worden ist.
Die Gründe, weshalb das aufgegeben worden ist, waren denn auch mehr ideologischer Art als, sagen wir, theorietechnischer Art. Die Schwächen der Theorie waren, wie gesagt, bekannt, aber die Ablehnung der Theorie hatte andere Wurzeln. Die Ablehnung beruhte vor allem auf der Vermutung, dass man von diesen Theoriegrundlagen aus nicht zu einer hinreichend radikalen Kritik der modernen Gesellschaft kommen würde. Die Normalisierung der sozialen Zustände nach dem Zweiten Weltkrieg hatte zunächst einmal positive Aspekte ermöglicht, das heißt, man vertraute auf Möglichkeiten, innerhalb der generellen Struktur moderner Gesellschaft Zustände zu verbessern. In den 60er-Jahren und dann in den 70er-Jahren wurde jedoch mehr und mehr deutlich, dass dies nur mit erheblichen Kosten oder auch mit Randzonen der vollständigen Unmöglichkeit zu haben sei. Im Bereich der Entwicklungspolitik und der Modernisierung von Entwicklungsländern sah man, dass mehr und mehr Projekte fehlschlugen, mehr und mehr Verelendung, Armut sichtbar wurde und mehr und mehr die Frage aufkam, ob in der Struktur der modernen Gesellschaft Faktoren eine Rolle spielen, damals sprach man vom »Kapitalismus«, die es unmöglich machten, zu einer gerechten Verteilungsordnung, zu einem die gesamte Bevölkerung der Erde erfassenden Fortschritt zu kommen. Natürlich konnte man auch innerhalb von Industriegesellschaften solche Beschränkungen des Positiven leicht beobachten. Auch hier blieben Klassenphänomene erhalten, auch hier war an eine gleichmäßige Verteilung von Wohlstand nicht zu denken. Auch hier war Demokratie zwar eingerichtet, aber sie war zu einer Parteiendemokratie geworden, die unfähig war, alle Impulse, die politisch an das System herangetragen wurden, wirklich in Politik umzuformen. Auch hier war gerade von der Soziologie aus sichtbar geworden, dass es bei aller Forschungsoffenheit des politischen Systems oder anderer Anwendungssysteme doch mehr oder weniger unmöglich war, soziologisches Wissen und vor allen Dingen kritisches Wissen in die Praxis hereinzutragen.
Es gab vielerlei im Rückblick auch verständliche Gründe dafür, dass der Bedarf für eine sehr viel radikalere, kritische Theorie aufkam und mehr und mehr Aufmerksamkeit und Intellektuelleninteressen an sich zog. Das ließ es dann als überflüssig erscheinen, sich mit den Details, mit den Verdiensten und Schwierigkeiten, mit den Vorteilen und Nachteilen einer systemtheoretischen Behandlung sozialer Fragen noch eingehend zu befassen. Das System wurde, und dies nicht ohne Grund, als etwas eher technisches, als ein Planungsinstrument, als ein Instrument der Modellierung sozialer Institutionen verstanden, als ein Hilfsinstrument für Planer, die doch nichts anderes im Sinn hatten, als die herrschenden Verhältnisse zu wiederholen, zu verbessern, zu rationalisieren.
Es gab, um dies zusammenzufassen und abzuschließen, mithin verschiedene Gründe für einen Stopp in der Weiterentwicklung des Bestandsfunktionalismus oder der strukturfunktionalen Theorie, einerseits immanente Schwächen, aber andererseits, und das war das Dominierende, eben auch eine ideologische Kritik, einen Bedarf an einer modernen Verhältnissen entsprechenden kritischen Gesellschaftstheorie – der dann aber nur mit relativ kruden Rückgriffen auf marxistisches Gedankengut eingelöst wurde.
Vielfach herrscht nun die Vorstellung, die parsonssche Theorie sei diesem Strukturfunktionalismus ohne Schwierigkeiten zuzuordnen. Ich selbst habe es in den 60er-Jahren auch so gesehen. Tatsächlich hat Parsons diese Version jedoch nie wirklich akzeptiert. Er hat sich später, vor allem in den 60er-Jahren, ganz offen vom Strukturfunktionalismus abgewendet und hat seine eigenen Theoriebemühungen davon unterschieden. Aber auch das ist nur begrenzt richtig. Parsons hatte in den späten 40er-Jahren und in der Phase seines Schaffens, die zu dem Buch The Social System (1951) geführt hat, dazu beigetragen, dem Strukturfunktionalismus die theoretische Rechtfertigung zu geben, auch wenn er selbst ihn immer als die »zweitbeste Theorie« charakterisiert hatte. Parsons hatte in Harvard Forschungen angeregt und zum Teil auch in sein eigenes Werk übernommen, die der Frage nach den Bestandsvoraussetzungen sozialer Systeme nachgingen. Er hat sich im Rahmen von strukturfunktionalen Überlegungen bemüht, Probleme der Devianz, der Beschränkungen sozialer Kontrolle, der Wertwidersprüche und so weiter in seine Theorie einzubauen. Er hat also Entscheidendes zur Förderung dieses Strukturfunktionalismus beigetragen. Dennoch ist es, glaube ich, verkehrt, Parsons umstandslos diesem Systemtrend einzuordnen, denn sowohl in seiner Anfangsphase, markiert durch das Buch The Structure of Social Action von 1937, als auch gegenüber der Entwicklung, die in den 50er-Jahren mehr und mehr dominiert, hat Parsons eine unabhängige und eigenartige Version von Systemtheorie entwickelt.
Ich möchte das in einer knappen Skizze versuchen zu zeigen. Man kann das Gesamtwerk von Parsons als einen quasi endlosen Kommentar zu einem einzigen Satz begreifen, und dieser Satz heißt: »Action is system«, Handlung ist System. Ich weiß nicht, ob dieser Satz in den gedruckten Arbeiten von Parsons irgendwo zu finden ist. Ich kenne ihn als eine mündliche Äußerung, 1 aber er scheint mir und schien mir immer die Quintessenz der parsonsschen Botschaft zu sein. »Action is system!« In einem beliebten Spiel bittet man Theoretiker, die Quintessenz ihrer Theorie in einem Satz zum Ausdruck zu bringen; wenn Parsons so gefragt worden wäre, hätte er, so verstehe ich ihn, antworten müssen, »Action is system.« Das ist insofern bemerkenswert, als in der nachparsonsianischen Zeit die Handlungstheorie mit Rückgriff auf Max Weber oder auch mit verschiedenen Figuren des rational choice wieder Mode geworden ist und dass sich von dort aus ein Kontrastprogramm zur Systemtheorie entwickelt hat oder auch eine Kontroverse, so als ob Handlungstheorie und Systemtheorie verschiedene, wie man sagt, »Ansätze« seien, die miteinander nicht vereinbart werden könnten. Die Handlungstheorie sei eher subjektorientiert, eher individuumorientiert, eher in der Lage, psychische, auch körperliche Zustände in die Soziologie aufzunehmen, die Systemtheorie hingegen sei eher abstrakt, vielleicht eher in der Lage, Makrostrukturen abzubilden. Die Vorstellung jedenfalls, die von einigen Handlungstheoretikern geäußert wird, ist die, dass Handlung und System unvereinbare Paradigmen sind. Wer immer das behauptet, sollte dazu gebracht werden, Parsons zu lesen. Vielleicht ist das keine endgültige Antwort auf das Problem, denn man kann natürlich die parsonssche Theorie als solche für unakzeptierbar halten und fällt dann und mit dieser Ablehnung zurück auf, sagen wir, Max Weber und ähnliche Grundlagen. Immerhin hat Parsons ganz klar gesehen – und hat versucht, eine Theorie zu entwickeln, die darauf reagiert –, dass man Handlung und System nicht trennen kann oder, anders gesagt, dass Handlung nur als System möglich ist.
Читать дальше