Professor Möller, einigermasser genesen, hatte es ihm neulich schon nahegelegt. Man war mit der Art, wie er den Chef vertrat, zufrieden gewesen. Und sogar ein Versuch der Oberin, nach Geheimrat Möllers Rückkehr ins Krankenhaus die Stellung Rasmussens zu unterminieren, war an dem unerwarteten Widerstand Möllers gescheitert. Malte hatte hier Aussichten. Der erste Oberarzt, der Kollege Brandmann, stand ziemlich sicher vor der Berufung nach Bonn. Nach Geheimrat Möllers Worten war es ziemlich sicher, dass man Rasmussens Bewerbung um diese Stelle befürworten würde Aber Malte hatte sich ja seine eigenen Lebenspläne zurechtgelegt Auf die Dauer passte er nicht in den schematischen Betrieb eines Krankenhauses. Er musste selbständig sein und, unbeschwert durch bürokratische Vorschriften, seine Tätigkeit persönlicher gestalten. In den letzten Wochen waren ihm ein paar Praxisangebote gemacht worden, darunter eins auf einer grossen Insel an der Ostsee. Ein schönes Arzthaus war vorhanden. Im Sommer gut zu tun durch den Zustrom der Kurgäste. Im Winter konnte man sich vielleicht einen Vertreter halten, um die eigene wissenschaftliche Fortbildung in der Grossstadt zu vollenden. Rasmussen hatte bereits an den Gemeindevorstand, sowie an den Kollegen, der aus Gesundheitsgründen seinen Wohnsitz dort aufgeben wollte, geschrieben. Nun war die Antwort gekommen. Es hing nur noch an seiner eigenen Entscheidung. Als er am nächsten Tage wieder einen heftigen Zusammenstoss mit der Oberin hatte, war diese Entscheidung gefallen. All diese Störungen der Arbeit fielen weg, wenn er selbständig war. Bereits am Mittag meldete er sich bei Geheimrat Möller an und teilte ihm seinen Entschluss mit. Zugleich bat er um einen kurzen Urlaub, um selbst an Ort und Stelle mit dem Kollegen und den zuständigen Instanzen zu verhandeln.
Die Nachricht, dass Doktor Rasmussen das Krankenhaus hier verlassen würde, war sehr schnell überall durchgedrungen. Auch zu Christine. Beim Mittagessen erzählte es Schwester Helene beiläufig. Christine senkte ihr Gesicht tief auf den Teller, als wäre die Betrachtung des Stücks Suppenfleisch inmitten der wässerigen Brühe von ungeheurer Wichtigkeit. „Nichts merken lassen“, dachte sie, „nichts zeigen.“ Niemand brauchte etwas zu wissen. Es war genug, dass sie es wusste, jetzt in diesem Augenblick, jäh wie ein Schlag gegen ihr aufzuckendes Herz: Malte Rasmussen ging also fort von hier. Damit ging alles, was Freude hiess und Kraft. Damit ging alles, was die Einsamkeit von einem genommen hatte. Aber man musste sich fügen. Das Leben forderte immer von einem, dass man sich fügte.
„Also hat die Oberin doch gesiegt“, sagte Schwester Helene. „War auch schön dumm von dem Rasmussen, sich mit ihr zu verkrachen.“
Der Hass gegen Rasmussen, aus Angst und Feigheit mit von der Oberin her übernommen, sprach aus ihren Worten. Nichts Gutes liess Schwester Helene an Doktor Rasmussen. Christine sass dabei. Schliesslich konnte sie nicht an sich halten. Mochten sie von ihr denken, was sie wollten. Sie liess hier nicht so von Malte Rasmussen reden.
„Hässlich ist das von Ihnen“, tönte ihre Stimme plötzlich sehr laut und entschieden, ihr Gesicht flammte. „Sie wissen ganz genau, dass Doktor Rasmussen sehr tüchtig ist und ein guter Arzt. Und ein guter Mensch. Ich finde es unanständig, jetzt, wo er fortgeht, so von ihm zu reden.“
Schwester Helene war empört:
„Na, hören Sie, was fällt Ihnen eigentlich ein? Sie vergessen wohl ganz, dass Sie noch Lehrschwester sind. Ja? Und Ihre leidenschaftliche Begeisterung für Doktor Rasmussen, damit stehen Sie nun ja ziemlich allein. Lassen Sie das nur nicht die Oberin hören. Das dürfte Ihnen schlecht bekommen.“
„Und wenn es mir schlecht bekommt, man greift einen Menschen, der sich nicht verteidigen kann, nicht so an.“
„Na, er hat ja in Ihnen Verteidigung genug. Vielleicht werden Sie auch wissen warum.“
„Was meinen Sie damit?“ sagte Christine und sah der Schwester Helene in die Augen. Die lächelte feige:
„Ach, gar nichts Bestimmtes. Im übrigen ist Herr Doktor Rasmussen für mich viel zu uninteressant.“
Es war am Tage vor der Abreise Doktor Rasmussens nach Swanhöh. Dieser Abend fiel mit einem dienstfreien Tage Christines zusammen. Sie hatten ihn in schweigender Verabredung zusammen verbracht. Es war ein Abend gewesen voll unbeschreiblicher Süsse und Wehmut. Man hatte nicht viel gesprochen. Man war nur beieinander gewesen in einem kleinen Restaurant der Stadt. Draussen ging ein kalter Landregen nieder. Dort drin aber war es warm gewesen und gedämpft. Wenige Menschen nur an den kleinen Tischen mit den gelblichen Seidenschirmlampen. Wie Christine jetzt dem Mutterhause zuging, war es, als wäre die ganze Zeit mit Rasmussen nur ein Traum, zusammengedrängt in die schwermütige Süsse dieses letzten Abends. Rasmussen hatte von seinen Zukunftsplänen erzählt. Sie hatte zugehört, dankbar, dass sie nicht zu sprechen brauchte. Denn jedes Wort hätte ein Verräter sein können. Es war eine Gnade, nicht sprechen zu müssen, ihn nur ansehen zu dürfen, wie er dasass und ihr das Bild seines zukünftigen Lebens zeichnete. Sein geliebtes Gesicht, Zug um Zug hatte sie es sich einprägen können, von dem eigensinnigen Ansatz des Haares über der Stirn mit den Denkbuckeln über der ausgearbeiteten Stirn, Zug um Zug abwärts von den sehr durchscheinenden, sehr wachen Augen zu der kräftigen Nase und dem Munde, der jetzt etwas Zusammengepresstes, Strenges hatte. „So ist ein Mann“, musste sie denken. Noch in der Gegenwart, war er in Gedanken schon ganz bei der kommenden Arbeit. Sie war für ihn nur eine Art Resonanz dessen, was er selbst wollte und plante. Für ihn war die Gegenwart hier schon Vergangenheit. Für sie selbst aber würde dies alles ewig Gegenwart sein. Zukunft war nur noch Einsamkeit. Dankbar war sie gewesen, dass sie hatte schweigen dürfen und nur ab und zu ein Wort dazwischenwerfen musste. Sie wusste ja nicht, was in Rasmussen vorging. Seine Gesprächigkeit war zum Teil gewollt. Er wollte nicht schweigen. Denn im Schweigen würde leicht etwas zutage treten, was unausgesprochen bleiben musste. Christine war ihm etwas geworden. Wieviel jedoch, wagte er jetzt nicht zu entscheiden. Es war ja erst eine kurze Spanne her, seit er geglaubt, in einer anderen Frau Lebenserfüllung zu finden. Man musste vorsichtig sein, misstrauisch gegen Gefühle und vor allem gegen sich selbst. Dies Mädchen hier war keine von vielen. Sie war etwas Besonderes. Man war es nicht nur sich schuldig, sondern auch ihr, sich zu prüfert, ehe man sie beunruhigte. Die grösste Gefahr im Leben war, aus einer sentimentalen Stimmung heraus zu handeln. So hatte er sich, wie üblich, freundschaftlich und herzlich an der bekannten Haltestelle don Christine getrennt. Christines Hand hatte eigentümlich kalt in der seinen gelegen:
„Frieren Sie, Schwester Christine?“ hatte er gefragt. Es war gut, dass der Weg dunkel war und er Christines Lächeln nicht sehen konnte:
„Ein wenig“, war ihre Antwort gewesen, „es ist ja auch wie Herbst heute.“
Dann hatte sie ihm schnell zugenickt und war schon in dem stiebenden Regen verschwunden. Er sah ihr noch einen Augenblick nach; er hatte das Gefühl, er müsste ihr nach. War da nicht in dem Klang ihrer Stimme irgend etwas gewesen? Ein Schwanken? Trauer? Irgend etwas Verändertes? Aber vielleicht bildete er sich das nur ein. Er wandte sich um und ging seinem Zimmer im Seitenflügel des Krankenhauses zu.
Christine stand mit dem Schlüssel in der Hand vor dem schmiedeeisernen Gitter, das den Garten des Mutterhauses abschloss. Sie hörte den letzten Hall von Rasmussens Schritten, dann den dumpfen Ton, mit dem die schwere Krankenhaustür geöffnet wurde. Sie stand still. Der Schlüssel war kalt in ihrer Hand. Sie fühlte diese Kälte bis in ihre Seele hineindringen. Vom Turm der Kirche nebenan schlug es zehn. Sie war gerade zur rechten Zeit nach Hause gekommen. Aber nun tat sie etwas Merkwürdiges. Sie drehte sich um und ging wieder hinein in die Nacht. Es war unmöglich, jetzt heimzugehen. Hätte man ein Zimmer für sich allein gehabt, nur vier Wände, in denen einen niemand sehen und hören konnte, dann hätte man sich auf sein Bett werfen können und weinen. Hätte die ganze Qual des Abschieds herausschreien können, einmal nicht beherrscht zu sein brauchen. Aber in dem Zimmer zusammen mit Schwester Helene und Schwester Grete? Man würde heut abend jede Miene von ihr belauern. Jede Bewegung beachten und aus jedem Wort seine Schlüsse ziehen. Das war das Furchtbarste, dass man niemals allein war. Eine Tortur war das! Heute konnte sie es nicht ertragen. Die Nacht hier war still. Und man war in ihr allein.
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