Schwester Christine vergass alles. Sie vergass die Hausordnung des Mutterhauses. Sie hatte die zehn Schläge von der Kirche her einfach nicht gehört. Sie wusste nur das eine: Die Nacht war in ihrer Einsamkeit barmherzig. So ging sie weiter hinaus in die Dunkelheit. Schon war das Anstaltsgebäude im Dunkel zurückgeblieben. Da war die Strasse; Laternen flackerten im Winde. Ihre Scheiben waren vom Regen beschlagen. Eine Elektrische sauste an ihr vorüber. Nun ein Auto. Hinter erhellten Scheiben sah sie Menschen sitzen. Ziellos ging sie weiter. Als sie endlich durchnässt und wie in einer Lähmung der Willenlosigkeit wieder vor der Anstalt ankam, war es elf Uhr. Sie öffnete die Gartenpforte. Aber als sie an die Haustür kam, ging das Schloss nicht auf. Der Riegel war vorgeschoben. Jetzt erst erwachte Christine zum Bewusstsein der Gegenwart. Schred ergriff sie. Nun musste sie klingeln. Denn sie wusste, um halb elf wurde die Haustür abgesperrt. Wer dann kam, musste den Pförtner wecken. Und der hatte die Weisung, jeden Zuspätkommenden der Oberin zu melden.
Zaghaft zog sie an der Klingel. Man würde wohl eine Weile warten müssen, Grauert pflegte ziemlich tief zu schlafen. Aber ganz gegen ihr Erwarten wurde sehr bald im Treppenhause Licht gemacht. Die Haustür wurde von innen aufgeschlossen. In dem hellen Lichtviereck stand die Oberin. Schwester Christine fühlte, wie ihr Herz einen unvorschriftsmässigen Sprung tat wie ein erschrecktes Tier, um dann in einem wilden Galopp loszujagen. Sie wollte sprechen, erklären. Aber die Stimme gehorchte ihr nicht. Und ehe sie das erste Wort herausgebracht hatte, sagte die Oberin schneidend:
„Jetzt kommen Sie, Schwester Christine? Zum zweiten Male verspäten Sie sich. Sie kennen die Hausordnung. Bis uni zehn Uhr haben die Lehrschwestern im Hause zu sein. Lehrschwestern, die sich des Nachts herumtreiben, kann ich in der Anstalt nicht dulden. Gehen Sie nur dorthin, wo Sie hergekommen sind.“
Die Tür knallte zu. Es gab einen dumpfen Hall, der noch eine Weile nachzitterte.
Christine stand vor der verschlossenen Tür. Das war doch unmöglich. Dies war nicht Wirklichkeit. Sie hatte nur geträumt. Irgendwie schwer und furchtbar geträumt. Vielleicht war sie auch krank. Erst jetzt merkte sie die eisige Kälte durch die nassen Kleider hindurch, die ihren Körper erstarren liess. Sicher war es eine Halluzination, die sie gehabt. Sie hatte ja überhaupt noch nicht geklingelt. Gleich würde sie es tun. Dann würde die Tür aufgehen. Sie würde oben sein in ihrem Zimmer, sich ins Bett legen, nichts mehr denken, nichts mehr wissen. Das kahle kleine Zimmer war ihr plötzlich wie glückliches Geborgensein. Nur die Glieder ausstrecken dürfen! Sonst nichts mehr. Sie streckte die Hand zum zweiten Male nach dem Klingelknopf aus. Und jetzt, da sie die Kühle des Metalls in ihrer zitternden Hand spürte, wusste sie es auf einmal, sie hatte nicht geträumt. Sie stand hier draussen vor der verschlossenen Tür. Drinner war ja noch Licht. Sie stand ausgestossen. Man hatte sie fortgejagt. Ganz allein war sie. Nur ein paar Mark hatte sie in der Tasche, nicht einmal genug, um die Fahrkarte nach Hause zu bezahlen. Überdies, der erste Zug ging erst morgen früh. Wo sollte sie heute bleiben? Und selbst, wenn die heutige Nacht vergangen war was dann? Die Mutter setzte alle Hoffnung auf sie. Was sollte sie ihr sagen? Wie ihr erklären? Was konnte aus ihr werden, wenn man sie mitten in der Lehrzeit hier mit Schimpf und Schande fortgeschict hatte? Verzweiflung erfasste sie masslos. Nun erst war das Unglück vollkommen. Sie wandte sich. Es war ja gleich, wohin sie ging. Irgendwohin musste sie ja. Hier im Regen konnte sie nicht stehen bleiben. Wie eigentümlich schwer ihre Füsse waren! War der Boden des Vorgartens immer so uneben gewesen? Alle Augenblicke stolperte sie. Es war, als ob die Muskeln und Sehnen ihr nicht mehr gehorchten. Was für ein grelles Licht war auf einmal um die Laternen herum? Feuerräder drehten sich schneller und schneller. War das ein Feuerwerk, wie sie es in der Kindheit so oft daheim bewundert? Aber nun schossen diese Feuerräder auf sie zu, umkreisten sie näher und näher. Schon fühlte sie sengende Hitze sich entgegenwehen. Sie schrie auf, streckte abwehrend die Hände von sich, lief taumelnd.
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