Christine sah den jungen Arzt an. Er war erst acht Tage auf der Station. Aber sie hatte das Gefühl, als müsste sie ihn schon seit Jahren kennen. Es war etwas von Wärme und Klarheit in ihm, was ihr vertraut war. Wie er am Krankenbett war, bestimmt und doch zart, das war die gleiche Art, in der der Vater Kranke behandelt hatte. In jedem Kranken nicht den Kranken, sondern den kranken Menschen zu sehen, das war der Lebensgrundsatz des Vaters gewesen. Ein Grundsatz, den manche Ärzte nicht zu teilen schienen und auch manche der Schwestern nicht. In ihrer kurzen Lehrzeit jetzt hatte sie das schon erfahren. Besonders die Oberin kannte nichts als Pflichterfüllung. Aber diese Pflichterfüllung war hart und kalt. Darum befand sie sich selbst auch ewig in Widerspruch zu ihr. Die Oberin schien das zu fühlen. Vom ersten Tage an war sie ihr mit einer ausgesprochenen Feindseligkeit entgegengekommen. Der gestrige Zusammenstoss, bei dem Doktor Rasmussen ihre Partei genommen, würde die Sache nicht besser gemacht haben. Aber Doktor Rasmussen wusste, wie man zu Kindern sein musste.
Er wusste wohl überhaupt sehr viel. Sie sah das an der sicheren Art, mit der er seine Anordnungen traf. Auch an der Art, wie der Chef, Professor Möller, sich ihm gegenüber stellte. Es war ungewöhnlich, dass ein so junger Arzt schon Privatassistent des Chefs wurde.
Die erste Frühlingssonne legte einen schmalen Lichtkreis um sie und den jungen Arzt.
„Na, woran denken Sie denn, Schwester Christine?“ fragte Doktor Rasmussen lächelnd. Er hatte ihre innerliche Abwesenheit wohl gespürt.
Christine erwachte, wurde sehr rot.
„Verzeihung, Herr Doktor, ich muss nun aber wirklich weiter. Ich bin ja auf 3b mit dem Aufräumen nicht fertig.“
Sie sah erschrocken auf ihre Armbanduhr:
„Mein Gott, um neun Uhr ist ja Visite!“
„Na“, lachte Doktor Rasmussen, „ich beisse ja schliesslich nicht. Lassen Sie schon mal einen Stuhl einen Zentimeter weiter links stehen, als es Anstaltsvorschrift ist.“
„Um Gottes willen, was würde dann Frau Oberin —“
„Die soll uns gern haben, Schwester Christine. Herrgott, das ist ja hier eine Angst, nicht zu sagen. Übrigens, halt, laufen Sie mir doch nicht weg. Sie wollten mir doch noch von dem kleinen Fritz erzählen. Also, was ist mit ihm los?“
„Misshandlung zu Hause, Herr Doktor, schwerster Art“, sagte Schwester Christine und sah unruhig den Korridor hinunter, ob die Oberin nicht irgendwoher auftauchen würde. „Das Fürsorgeamt hat ihn uns hier eingeliefert. Nun ist er vollkommen verstört. Wittert überall Gefahr. Darum denke ich, man müsste erst einmal die Seele in Ordnung bekommen, sonst wird es auch körperlich nichts. Und darum habe ich —“ Sie brach ab — nein, sie konnte doch als kleine Lehrschwester nichts von ihrem Konflikt mit der Oberin sagen. Taktlos wäre das gewesen und hätte ausgesehen, als wollte sie sich einen Bundesgenossen in Doktor Rasmussen suchen.
„Ich muss nun wirklich gehen, Herr Doktor. Verzeihen Sie.“
„Na, gehen Sie schon, Schwester Christine, und falls es Sie beruhigt, ich werde heute auf Station 3a aller Voraussicht nach länger zu tun haben.“
„Wieso?“ fragte Schwester Christine ganz verwundert. „Da sind doch keine neuen Fälle eingeliefert.“
„Nein, das gerade nicht. Aber ich möchte verhindern, dass eine gewisse Schwester Christine mit ihrer Station noch nicht fertig ist.“
Er nickte ihr lächelnd zu, sah ihr nach, wie sie schnell in ihrem gestreiften Schwesternkleide den Gang hinablief. Ihre schwarzen Schuhe klapperten, dann klappte die Tür zu Station 3b.
Doktor Rasmussen ging rasch, ein kleines Lächeln auf dem Gesicht, in sein Zimmer. Da waren noch ein paar Berichte fertig zu machen, bis der Chef erschien. Aber, es war merkwürdig. So konzentriert er sonst arbeitete, heute drängte sich immer die Erinnerung an das Gespräch mit Schwester Christine dazwischen. Immer wieder sah er den blonden zarten Nacken, die sehnsüchtige weiche Gebärde, mit der sie sich über die Blüten gebeugt. Zum ersten Male musste Doktor Rasmussen denken, wie ungemäss das Leben einer Krankenschwester für ein blühendes junges Mädchenwesen doch war. Dass ihm das noch niemals in den Sinn gekommen war! Da war man jahrelang durch Krankenhäuser gegangen. Jahrelang hatte man mit Schwestern zusammengearbeitet. Mit alten und jungen, mürrischen und freundlichen. Aber nie war einem der Widerspruch zwischen Jungsein und Krankenhausarbeit so ins Bewusstsein gedrungen. Zu allen Schwestern hatte er bisher sachlich gestanden. Sie gehörten zum Krankenhaus wie er selbst und die anderen Ärzte. Er hasste es, die Liebeleien anderer Kollegen mit Schwestern und Laborantinnen mitzumachen. Privates war bisher für ihn vom Beruflichen streng getrennt gewesen. Aber heute, diese junge zarte Mädchengestalt, das helle Licht der Sonne auf ihrem Gesicht, das zarte Rosa und Weiss der Blüten. Alles war ein Bild gewesen, zu dem eigentlich nur Sommer und Freude gehörte. Nicht dies hier. Er schüttelte den Kopf. Da hatte er weiss Gott eine falsche Bescheinigung für Krankenbogen 25c, Rosina Schmidt, geborene Werner, geschrieben.
Ärgerlich machte er einen dicken Strich durch die Notiz links oben. Als striche er damit auch seine Gedanken hinweg.
Als er nach einer Weile mit den Akten herauskam, war der Vormittagsbetrieb des grossen Krankenhauses schon in vollem Gange. Esswagen rollten in die Küche zurück. Tassen und Teller klapperten leise. Aufräumefrauen mit Eimern, in denen es nach Lysoform und Seife roch, schlürften an ihm vorüber. Ein paar Krankenwagen wurden zum Fahrstuhl geschoben, um in den Operationssaal hinaufbefördert zu werden. Bleiche, angstvolle Gesichter sahen ihm entgegen. Die erste Operation oben bei Professor Dönnis schien schon vorbei zu sein. Auf einem Wagen kam eine Frau heruntergefahren. Ihr Gesicht war grünlich-bleich in der Erstarrung der Narkose. Ein betäubender Duft von Äther ging von ihr aus. Die weissen Kittel der Ärzte wehten durch die Gänge. Schwestern gingen grüssend vorüber, trugen Gefässe mit Thermometern, Instrumenten, Verbandzeug.
Ein paar junge Ärzte kamen im Gespräch aus dem Seitenkorridor.
„Schade, dass Sie nicht oben waren, Rasmussen“, meinte ein blonder Untersetzter, „Dönnis hat eine Rippenresektion gemacht, fabelhaft, sag ich Ihnen.“
Während er sich Rasmussen anschloss, erzählte er lebhaft vom Verlauf des Eingriffs.
Schwester Christine hatte Pech. Als sie eilig in die Station hineinkam, prallte sie schon in der Tür auf die Oberin. An der Art, wie die ihren Gruss übersah, merkte sie, die Oberin hatte den Zusammenstoss an dem Krankenbett des kleinen Fritz Dumke nicht vergessen.
„Vielleicht kommen Sie das nächste Mal erst nach der Visite, Schwester Christine“, sagte sie spitz. „Warum waren Sie so lange von der Station weg?“
„Verzeihung, Frau Oberin, Herr Doktor Rasmussen hatte mich etwas zu fragen.“
Die Oberin lächelte eigentümlich:
„Aha. Und das war so wichtig, dass Sie hier Ihre Arbeit versäumen. Sie haben mit den Ärzten nur dienstlich zu sprechen, Schwester Christine. Das könnten Sie eigentlich bereits wissen.“
Christine war das Blut ins Gesicht gestiegen. Sie wollte etwas sagen, aber die Oberin schnitt ihr das Wort ab:
„Ich wünsche keine Widerrede. Sie haben sich nach den Dienstvorschriften zu richten. Sie haben bis zur Visite Ihre Station fertig zu machen und nicht irgendwo herumzuflirten.“
„Sie müssen sich nichts daraus machen, Schwester Christine“, tröstete Schwester Elisabeth leise, nachdem die Oberin das Zimmer verlassen. „Sie ist nun einmal so. Versucht uns zu ducken, damit wir nicht übermütig werden. Man gewöhnt sich auch daran.“
Christines Gesicht war sehr bleich. Sie warf den Kopf zurück. Eine kleine steile Falte stand zwischen ihren hellen Brauen:
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