Man setzte sich und begann zu essen. Eines der Hausmädchen trug auf und Frau Doktor gab in ihrer stillen, bestimmten Art die Anweisung, oftmals nur durch einen Wink nach dem Anrichtetisch hin. Man tafelte immer schnell und ohne Aufenthalt, denn jedes war froh, wenn es vom Tisch weg war, weil es seinen Neigungen nachgehen wollte. Am meisten sehnte sich Frau Ernestine danach, denn für gewöhnlich war die Unterhaltung öde und ohne Reiz. Jeder ritt sein Steckenpferd. Der Alte sprach von seinen Münzen, der Älteste erzählte die nichtigsten Dinge, Edda schwieg sich aus, wenn sie nicht gerade einen neuen Roman erwähnungswert fand, und die Jüngste plauderte von ihren Puppen, mit denen sie immer noch so gern spielte, und ärgerte damit die Ältere, die kleiner als sie war und daher mit diesen leblosen Wesen immer verglichen wurde. Und wenn die Mutter und Günther sich über Geschäftsdinge unterhielten, so interessierte das wieder die anderen nicht.
Es kam höchstens Leben in die Unterhaltung, sobald Günther mit seinem Temperament dazwischenfuhr und irgendeine Tagesfrage anschnitt. Denn er interessierte sich auch für alles, was ausserhalb der Kontorfrage lag. Dann fühlte sich Edda besonders hingerissen, und auch der Chefgemahl liess sein Münzthema fallen, während der Erstgeborene seine Gedanken zusammensuchte, um dem Jüngeren seine Weisheit entgegenzuhalten. Er liebte ihn zwar, aber stritt um so mehr mit ihm, weil er die Unterjochung seines bisschen Geistes nicht dulden wollte.
Um so einsilbiger ging es also heute zu, da Günther wieder einmal den Tisch der Eltern verschmäht hatte. Ausserdem war auch Fräulein Assmus, die Erzieherin, nicht anwesend, da sie heute zu Verwandten geladen war. Sie wusste viel, gab, da sie immer aufgelegt zum Sprechen war, der Unterhaltung eine gewisse sachliche Färbung, wodurch dann die Pausen ausgefüllt wurden. Frau Doktor aber sprach am wenigsten, denn sie musste die Augen überall haben.
„Wenn Günther nicht hier ist, weisst du, Mammi, dann ist schon gar nichts los“, meldete sich endlich das „Baby“, nachdem es von dem Braten langsam genug gekaut hatte, als hätte sie Pappe im Mund. Über diesen Geschmack klagte sie immer.
„Zum Piepen ist es“, mischte sich Gerhard hinein, wobei er durch sein Kauen die Worte zerriss. „Dieser Knabe Günther fängt an, uns fürchterlich zu werden. Schneidet uns Abend für Abend. Schliesslich kommt man noch auf den Gedanken, dass er eine heimliche Braut hat. Willst du glauben, Mama?“
„O, Mammi, Günther hat schon eine Braut, hörst du?“ rief die Kleine aus und hüpfte vergnügt auf ihrem Stuhl. „Eine heimliche sogar, Edda, denk nur! Damit zieh ich ihn morgen auf. O ja.“
„Ganz still bist du und plapperst solchen Unsinn nicht nach“, sagte Frau Frobel streng und machte dem Ältesten Vorwürfe, auf solche törichte Dinge zu kommen. Und um sich diesmal selbst zu belügen, sagte sie dasselbe, was sie vorhin zu der Hausdame gesagt hatte.
„Na, an den Klub glaubst du doch selbst nicht“, meinte Gerhard mit dickem Kopf.
„Natürlich glaube ich daran“, sagte Frau Frobel noch bestimmter. „Beruhige dich darüber und gönne ihm die Freiheit. Du hast sie ja von früh bis spät.“
„Das ist nun wahr, Gerhard“, erhob Edda ihre dünne Stimme, um ihm wieder eins auszuwischen. „Vor zehn Uhr stehst du nie auf, und Günther ist der einzige von uns, der den ganzen Tag über arbeitet. Ausser Ma’chen natürlich.“
„Ja, das ist er, deshalb verdient er auch, dass man mehr Gutes von ihm spricht“, sagte Frau Frobel wieder und schloss damit dieses Gespräch.
„Mama, was sagst du denn bloss dazu, dass dieser Emmerich wieder auftritt,“ fistelte Gerhard dann unvermittelt. „Papa sprach vorhin davon. Du, Edda, sprach er nicht davon? . . . Mir war die Geschichte von eurem Protegé, weisst du, schon ganz entfallen. Den hat Grossmama ja wohl berühmt gemacht, nicht wahr?“ Und er unterbrach sich: „Wollen Sie mir mal das Roastbeef herüberreichen, Frau Doktor, ja? Das ist ausgezeichnet heute. Danke, danke . . . Ja, also Mama, wie war doch die Geschichte gleich? Du hast mal für den Sänger geschwärmt, sehr geschwärmt, nicht wahr? Als er noch auf der Höhe stand, nicht wahr? Und dann benahm er sich unfreundlich zu Grossmama, nicht wahr? Ich habe die Chose nicht ganz kapiert, denn — Edda, die Remoulade, sei so gut, — denn Papa war wieder recht zerstreut dabei. Um nicht zu sagen konfus.“
„O, Mammi hat für einen Sänger geschwärmt, denk nur, Edda!“ meldete sich Annemarie wieder und liess die Augen vergnügt nach oben gehen. „Das muss schön sein.“
„Weshalb soll Mama nicht mal für einen Sänger geschwärmt haben“, diente ihr Edda altklug. „Das ist doch gar nicht etwas so Besonderes. Das tun viele junge Mädchen. Manche verschiessen sich sogar in die Tenöre und schreiben ihnen Liebesbriefe.“
Annemarie wollte in die Luft gehen vor Erstaunen. „Mammi, hörst du? Was Edda alles weiss!“
Edda nickte grossartig. „Dass Claire Rüter das getan hat, das weiss ich bestimmt. Die hat es mir selbst erzählt. Sie hörte nämlich den Don Juan mit d’Andrade und war rein futsch in ihn.“
„Claire Rüter! Hör doch nur, Mammi. Sie hat schon Liebesbriefe geschrieben“, rief Annemarie abermals aus und drehte pfiffig das Vogelgesicht, während sie unter dem Tisch mit den Beinen strampelte.
„Dann hat sie es gewiss als dummes Gänschen getan und verdiente eine ordentliche Lektion von ihrer Mutter“, sagte Frau Frobel ruhig.
„Allerdings war sie noch ein dummer Backfisch,“ sagte Edda wieder, die ganz verkrümelt zwischen Mutter und Schwester sass. „So wie du zum Beispiel, Anne.“
„Na, das verbitt’ ich mir nun doch“, sagte die Jüngste durchaus entrüstet. „Weisst du! Ich kann schon mehr Staat machen als du.“
Gerhard brachte verschiedene Lachtöne hervor, ohne aber die Worte zu finden, weil er nach einer bedeutsamen Bemerkung suchte. Endlich aber kam doch seine Meinung zum Vorschein. „Was sagen Sie dazu, Frau Doktor? Sind das nicht ganz moderne Mädels?“
„Dazu gehört wohl noch ein bisschen mehr“, erwiderte Frau Rumpf mit ihrer kalten Gemessenheit.
„Das meine ich auch“, sagte Frau Frobel bestimmt. „Sie plappern, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Das ist die einzige Entschuldigung. Lassen wir das Thema ruhen.“
Zum Glück kam auch Gerhard darauf nicht mehr zurück, denn seine Gedanken, soweit er welche hatte, jagten wieder, leider aber kreuz und quer. Er hatte plötzlich entdeckt, dass seine Handmanschetten neuerdings nicht mehr die mittlere Steifheit zeigten, wie er sie sich in letzter Zeit gewünscht hatte. Und so liess er sich darüber mit Frau Doktor in eine längere Erörterung ein, die fast einer wichtigen Zeitfrage glich. Er beklagte sich wie ein Kind, das immer dieselben Worte gebraucht. Alsdann fiel ihm ein, dass er noch ins „Weihenstephan“ an der Potsdamer Brücke müsse, wo er an diesem Abend seinen Stamm hatte. Alle wussten das zwar bereits, aber es gab ihm doch wieder Gelegenheit, seiner Mutter auseinanderzusetzen, wer alles da sei: drei Korpsbrüder, zwei Leutnants auf Kriegsakademie, mehrere Zivilisten und besonders Herr von Eixling, „sein Freund“, der neuerdings seine eigenen Pferde laufen lasse. Dieser Herr von Eixling kehrte immer wieder, sobald er auf die Gesellschaft zu sprechen kam.
So waren sie bald fertig mit der Tafelei. Und als man sich dann erhoben hatte und Frau Frobel auf Minuten allein war, kam ihr die Bemerkung der Jüngsten zum Bewusstsein: Ja, es war immer langweilig, sobald Günther nicht am Tische sass. Heute hatte sie es mehr denn je empfunden.
Zwei Tage später fuhr Frau Frobel ins Theater des Westens. An diesem Abend machte es sich gerade so, dass ausser den beiden Mädchen niemand von der Familie zu Hause war: und so konnte sie allen Fragen entgehen und das Coupé mit den Karossiers Punkt halb acht vorfahren lassen, ohne auf Gesellschaft rechnen zu brauchen. Am anderen Tage konnten sie ruhig erfahren, wo sie gewesen sei; nur heute wollte sie allein sein, — allein sein mit der herben Sehnsucht einer gealterten Frau, die mit geschlossenen Augen über eine morsche Brücke fährt, nicht wissend, was passieren wird. So wenigstens malte sie sich dieses Bild aus, als sie endlich, in ihren warmen Abendpelz gehüllt, in der Ecke des Wagens sass und die schwarzen Bäume des Ufers an ihr vorüberhuschten. Die Fahrt ging den langen Kanal entlang, dem Kurfürstendamm zu, wo dann der Wagen links abzubiegen hatte.
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