Was wollte sie eigentlich? Weshalb fuhr sie hin? Warum begab sie sich auf diese Brücke, die sie doch nur einem öden Ufer mit abgestorbenen Resten entgegenführen musste?! Frau Frobel, von einem Eingeweihten gefragt, hätte nicht gewusst, was sie darauf erwidern sollte; sie war eben nur einem Entschluss gefolgt, den man ausführt wie hundert andere, nur um sich selbst zufriedenzustellen. So sagte sie sich, und so wollte sie es sich einreden. Aber während sie sich auf weichen Gummirädern wiegte und ihr Auge immer wieder hinaus irrte in den dunklen Winterabend ohne Schnee, wo die Lichter im schwarzen Wasser aufblitzten und wieder verschwanden, hin und wieder eine weisse elektrische Kugel in die Finsternis hineingellte, spukhaft erleuchtete Fenster am anderen Ufer vorüberzogen, tiefe Schatten unter klaffenden Brücken die Unterwelt gähnen liessen, Wagenflämmchen kümmerlich dahinschossen, ohne dass man kaum die Pferde vor ihnen sah, und menschliche Schatten vorüberflatterten, — da musste sie an eine ähnliche Fahrt vor vielen Jahren denken, fast denselben Weg entlang, aber nicht im eigenen Wagen, sondern in einer Droschke zweiter Klasse, die ihr bei ihrem Sündengang gerade über den Weg gelaufen kam.
Damals war es im Mai beim warmen Sonnenstrahl eines Spätnachmittags. Die ganze Natur stolzierte im Frühlingsstaat; Bäume und Sträucher waren mit zartem Grün besteckt, die Bläue des Himmels wiegte sich im Wasser, die Nachtigall flötete ihr Lied hinaus, und die Leute lachten in die Welt hinein. Mutter Erde liess überall die frischen Triebe spriessen, und die Menschen fühlten sich mitgerissen davon, wie sie, Ernestine Frobel, sich hinreissen liess, dem Lockrufe desselben Mannes zu folgen.
Damals zwang sie ihr heisser Sinn, heute aber nur ihr Verstand. Es musste so sein, denn ihr Herz schlug ruhig, nicht wie in jener Stunde unter dem stürmischen Drang sehnlichster Erwartung. Oder war es nicht einmal der Verstand, der sie hinführte, um sich selbst auf ihre Festigkeit zu prüfen, sondern nur die Neugierde, zu sehen und zu hören, was eine ausgebaute Ruine noch für einen Eindruck machte? Oder vielleicht gar nur die Klugheit, mit der man einer Gefahr begegnen will?
Frau Frobel bewegte sich unruhig und warf sich zur Abwechselung in die andere Ecke des Wagens. Ja, so war es, ihr Gefühl sagte es ihr: es war nur die Klugheit, der sie folgte; vielleicht war auch die Neugierde dabei, dann aber doch nur in geringem Masse.
Sie sah noch den Lützowplatz im weissen Schimmer seiner vielen Laternen an sich vorüberhuschen, dann schloss sie die Augen, um sich einen Seelenschlummer vorzutäuschen. In ihren Gedanken aber, die unheimlich munter blieben, kehrte immer wieder die Frage zurück: Weshalb fährst du hin, warum hast du dich in deinem Gleichmut stören lassen? Und plötzlich fühlte sie ihr Herz so unruhig schlagen, dass sie nach Luft schnappte und den Pelz aufriss, weil ihr unheimlich warm wurde. Aber es war ein Zustand, den nur ihre Einbildung geschaffen hatte: die Angst hatte sie wieder aufgestört, die Furcht vor etwas Niederträchtigem, das ihr begegnen könnte. Deshalb folgte sie seinem Rufe, deshalb nur allein! Und sie kam sich wie eine Spionin vor, die den Gegner umschleichen will, um aus seiner Miene auf seine Angriffsfähigkeit zu schliessen.
Das war das Tragische in ihrem Leben: dass sich die Liebe des anderen in Feindschaft verwandelt hatte; nicht in jene offene, für die grosse Naturen ihr Leben einsetzen können, sondern in eine kleinliche und niedrige die im geheimen die Seele mordet und sie ohne Aufschrei verbluten lässt.
Und Frau Frobel hätte doch so gern einmal aufgeschrieen, um sich Luft zu machen im namenlosen Leid.
Ein Zug donnerte über die eiserne Stadtbahnbrücke, unter der der Wagen hindurchfuhr, und gleich darauf war sie im Theater. Der livrierte Türhüter sprang hinzu, öffnete den Schlag und half ihr höflich hinaus. Sonst sass noch der Diener mit auf dem Bock, um eilig herunterzuspringen und seine Pflicht zu tun, — heute hatte sie ihn zu Hause gelassen, um überflüssiges Aufsehen zu vermeiden. Rasch rief sie dem Kutscher, der mit der Hand am Hut salutierte, ein paar Worte zu; dann rauschte sie die Stufen hinauf und durch die Vorhalle, vorbei an den wenigen Menschen, die dort umherstanden. Denn es war noch früh, und man drängte sich nicht gerade zu diesem Theater, das als Kunststätte in diesem Jahre nicht auf der Höhe stand. Und obendrein befand man sich im Weihnachtsmonat, der die Menschen auf andere Gedanken brachte.
An der Garderobe angelangt, hatte sie es nicht mehr so eilig. Langsam legte sie ihren Pelzmantel ab, und ebenso gemächlich löste sie das Kopftuch. Dann streifte sie sich die wollenen Überhandschuhe von den zarten, weissen Glacés, steckte sie in den Mantel, nahm die silberne Panzertasche, die ihr den Pompadour ersetzte, und trat vor den nächsten Spiegel, um sich das Haar ein wenig glatt zu drücken. Eigentlich aber geschah es nur, um sich rasch einer Musterung zu unterwerfen. Sie war keine eitle Frau, war es auch nie gewesen; heute jedoch hatte sie die Empfindung, als müsste sie sich noch einmal besonders prüfen, bevor sie sich unter das Publikum mischte. Eine Art Selbstkritik lockte sie dazu, der sich Frauen so gern unterwerfen, die sich ihrem einstigen Geliebten nahe fühlen und befürchten, plötzlich von ihm unter die Lupe genommen zu werden. Obgleich das nun Frau Frobel nicht zu befürchten hatte, fragte sie sich doch, ob sie sich noch sehen lassen könne. Und sie war mit sich zufrieden. Zwar hatte sie nicht grosse Toilette gemacht, wie sie es sonst zu tun pflegte, sondern nur ein elegantes Tuchkleid angelegt, aber sie war vom Kopf bis zu den Füssen die Dame der Gesellschaft, deren guten Geschmack man schon aus der diskreten Farbenzusammenstellung erraten konnte.
Ja, sie „machte“ sich noch; selbst in der Taille noch die so schön herausgearbeitet war. Mit Vergnügen strich sie darüber hinweg. Die gut erhaltene Frau von achtundvierzig Jahren stand vor ihr, deren frisches und molliges Gesicht unter dem noch dunklen Haarbau das Alter Lügen strafte. Wie klar noch ihr Auge war, wie fast rosig noch ihre Lippen sich wölbten, wie wenig erst die Krähenfüsse sich bemerkbar machten! Andere hätten sie mehr gesehen, Frau Frobel sah in diesem Augenblicke nur so, wie es die Einbildung ihr vorschrieb. Wie weiss ihr Hals noch war, wie fest sich ihre Schultern rundeten: und wie gerade und stolz ihre Haltung war! Sie lächelte sich an und sah die noch wohl erhaltenen, echten Zähne blitzen, auf deren Pflege sie immer so viel gegeben hatte. Ja, ihre kräftige, gesunde Natur hatte sich von all dem inneren Leid nicht unterkriegen lassen, sondern hatte sich eher daran gestärkt, wie die Flamme aufleuchtet, wenn sie sich selbst verzehrt.
Würde sie so noch Eindruck auf ihn machen, wenn er sie sähe? Sie wusste, dass es dumm von ihr war, diese Frage aufzuwerfen, aber es machte ihr Vergnügen, sich ein paar Augenblicke in diesen Gedanken zu wiegen.
Ein ödes Gesicht tauchte hinter ihr auf, das seinen Seehundsbart mit zwei Bürsten zu bearbeiten begann: und so war der schöne Spuk vorüber.
Frau Frobel ging und sah sich die Lage der Parkettloge an, in der sie einen Vordersitz hatte. Der biedere Herold, darauf bedacht, dass seiner Frau Chef jedenfalls damit gedient sein werde, möglichst unauffällig und doch standesgemäss der Vorstellung beizuwohnen, hatte sich einfach das Adressbuch mit dem Theaterplan vorgenommen und ihr zu diesen Plätzen geraten, was sie dankbar anerkannt hatte. Sie liess die noch leere Loge öffnen, warf einen Blick hinein und ging dann in das Foyer hinauf, denn es fehlten noch zehn Minuten an acht. Stolz liess sie die kurze Schleppe hinter sich herrauschen. Oben, in dem glänzenden Saal, wollte sie ein wenig Umschau halten, ob sie nicht irgendwie ein bekanntes Gesicht sähe, aber vergeblich spähte sie unter den wenigen Menschen.
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