„Aber erlaube mal, Püppchen — umherschleichen!“ zerrte er die Worte hervor, „wie sich das anhört. Tu ich absolut nicht, du bist doch auch wirklich kein Objekt dazu . . . Ich trete mir nur diese neuen Parkettkähne aus, die mir dieser Idiot von Schuster natürlich wieder zu eng gemacht hat. Dieser ganz unheilbare Idiot! Hat so ein Individibum wohl eine Ahnung, was für einen Kulturmenschen die Hühneraugen bedeuten? Nee. Hat er nicht.“
Danach gab er zunächst seiner Mutter zur Begrüssung den üblichen Handkuss, ganz im Galanteriegenre seines Vaters, natürlich auch mit demselben Achtungsbedürfnis, denn er hatte vor ihr denselben heillosen Respekt wie alle in der Familie. Und nun fuhr er in seinen Kehlkopftönen, die noch komischer wie die seines Vaters wirkten, fort, sich über den Schuhmacher zu beklagen, und zwar mit einer Wichtigkeit, als hinge das Wohl der ganzen Welt davon ab. Er gehörte eben zu den Leuten, die über die nichtigsten Dinge einen Vortrag halten können. Was war ihm sein ganzes Jus, was der innere Mensch, wenn der äussere nicht seine Befriedigung erweckte! Aber sein Ärger war liebenswürdiger Art, mehr das hilflose Jammern eines bedauernswerten Menschen, der seine eigenen Sparren nicht kennt.
Frau Frobel, die sich längst an solche einfältigen Klagen gewöhnt hatte, hörte gleichgültig zu und nickte nur.
Edda jedoch, die über das „Püppchen“ aufgebracht war, sah sie mit einem heimlichen Tipp auf die Stirn bezeichnend an. Sie hatte nur die körperlichen Mängel vom Vater, den scharfen Verstand aber von der Mutter. Fortwährend verdrehte sie wie entsetzt die Augen, schöpfte wiederholt Luft, um etwas zu sagen, und platzte endlich in seine Redepause hinein. „Nun musst du es auch noch mal hören, du Ärmste. Und schon zu Günther hat er denselben Salm daraus gemacht . . . Ja, ich sage Salm, weil du immer Püppchen zu mir sagst.“
Wütend sah sie den Grinsenden an und stiess mit dem Fuss auf. „Denkst du denn, ich weiss nicht, was du damit sagen willst? Ich sei zurückgeblieben und ein unbedeutendes Ding! Ein Püppchen setzt man überall hin, wo man will, nicht wahr? Und da muss es warten, bis man sich wieder seiner erbarmt. Aber ich bin gelenkiger, als du glaubst. Obendrein vernünftiger. Pah!“ Verächtlich hob sie die Schultern. „Denk nur nicht, dass ich um ein Paar Schuhe so viel Theater mache.“
Gerhard schüttelte sich vor Lachen. „Aber Püppchen, Püppchen! Du wächst ja ordentlich.“
„Ma’chen, du musst es ihm verbieten“, wehrte sich die Kleine. „Weisst du, was er noch gesagt hat? Ich würde nie einen Mann bekommen.“
„Aber Püppchen, das sagst du doch selbst immer.“
„Dann brauchst du es doch nicht zu sagen.“ Sie war, eingedenk ihrer armseligen Figur, dem Weinen nahe. Aber, sich beherrschend, liess sie die Worte weiter sprudeln. „Ich beschäftige mich doch wenigstens mit etwas, ich erfülle doch schon meinen Zweck. Papa habe ich heute zwei Stunden bei seinen Münzen geholfen. Und wie hat er mich gelobt! Soll ich dir was sagen, Grosser? Lerne von Günther. Gegen den nimmst du dir so was nicht heraus, trotzdem er auch jünger ist als du. Vor dem hast du Respekt. Siehst du, da hast du auch etwas von mir bekommen.“
Gerhard nahm das wiederum nicht übel, sondern lachte ins Leere, gerade wie sein Vater lachte, wenn er sich damit für den Mangel an Worten entschuldigen wollte. Die Hände in den Hosentaschen, stolzierte er durch das Zimmer. „Respekt, Respekt“, echote er dann. „Natürlich habe ich Respekt vor ihm, du Püppchen. Weil er dazu da ist, später das Vermögen zu vermehren. Einer muss es doch tun.“
Frau Frobel hatte genug von diesem Streit, und so ging sie mit ihnen in das Speisezimmer, wo der Tisch bereits gedeckt war.
Geschäftshaus und Wohnhaus stiessen zusammen und waren im ersten Stockwerk mit einem Durchbruch verbunden. In dieser ruhigen Gegend am Kanal, wo man kein Gegenüber hatte, wohnte und lebte es sich so schön, dass man niemals Verlangen nach dem äusseren Westen gezeigt hatte, obwohl man dort mehrere Mietpaläste besass, in denen alle Annehmlichkeiten der Neuzeit zu finden waren. Gerhard hatte zwar schon manchmal darüber gemuckt, heimlich unterstützt von seinem Vater, aber Frau Ernestine liess sie ruhig grollen und umging die Sache immer mit der Ausrede, dass sie selbst in die Nähe des Geschäfts gehöre und erst Günther so weit sein müsse, dass man sich auf ihn verlassen könne. Sie hatte auch sonst noch ihre besonderen Gründe, die aber niemand von ihnen zu wissen brauchte.
Im übrigen brauchte man sich durchaus nicht zu schämen, in einem Hause zu wohnen, das noch von Schinkel erbaut war und in dem sich schon beim seligen Kommerzienrat Minister wohlgefühlt hatten. In den letzten zehn Jahren hatte man nach und nach sechzigtausend Mark hineingesteckt, um der Wohnung grössere Räume zu schaffen und sie neuzeitlicher zu gestalten, und dieses Kapital musste erst wieder abgewohnt werden.
Das war wenigstens Frau Frobels Meinung, die sie gewöhnlich noch durch Bemerkungen ergänzte, dass man ja, wenn sie mal tot sei, machen könne, was man wolle. Ihr Mann lachte dann gewöhnlich und behauptete, sie werde sicher hundert Jahre alt werden. Gerhard jedoch dachte bei sich: Hübsche Aussicht für den Zug nach dem Westen!
Am Tische sass bereits Annemarie, die Dreizehnjährige, ein blasses, spillriges Ding, mit dem Vogelgesicht des Vaters aus dessen späterer Periode, was sich namentlich zeigte, sobald ihre Augen suchend in die Höhe gingen. Mit diesem Kinde hatte man am meisten durchgemacht, denn, obwohl tadellos gewachsen, war es von frühester Jugend au schwach und kränklich gewesen, trotzdem man es fast in Watte gewickelt und ihm die gesundeste Amme gehalten hatte, die man finden konnte. Die Neigung zur Bleichsucht war nicht herauszutreiben. Ewig war sie müde, klagte sie über Kopfschmerzen, so dass man sie wie ein Wesen aus Glas behandelte. Nur vorübergehend hatte sie die Schule besucht, dann war sie wieder ihrer Erzieherin anvertraut worden, die sich abquälte, sie aus ihrer geistigen Trägheit aufzurütteln. Neuerdings trug man sich mit der Absicht, sie auf mindestens zwei Jahre in eine Pension im Süden zu bringen, deren Inhaberin die Frau eines Arztes war, so dass man sie in guter Behandlung wusste. Geheimrat Völckner, der alte Hausarzt, hatte es so verordnet, und deshalb sollte Frobel senior die Reise nach da unten machen und Edda gleich auf ein paar Wochen mitnehmen.
Ewig voll zappelnder Unruhe, wie Annemarie war, hatte sie das Sitzen bereits lästig gefunden, und so lief sie auf ihren Storchbeinen der Mutter mit den Worten entgegen: „Mammi, wo bleibst du denn? Ich verhungere schon.“ Und sogleich knutschte sie die Mutter ab, springend wie ein junger Hund, der sich mit seinem Schnäuzchen durchaus reiben will. Sie sagte immer Mammi, weil sie das süsser als das „Ma’chen“ der Älteren fand.
Jedes der Kinder hatte überhaupt seine besondere Art, sich der Mutter gegenüber zu geben, die sie alle zusammen am liebsten vor Herzlichkeit aufgegessen hätte. Daran war nicht zu zweifeln.
„Und nachher isst du wieder so wenig“, erwiderte Frau Frobel und schickte dann gleich den Diener hinaus, der ihr heute, wo der Hausherr nicht anwesend war, überflüssig erschien. Das war mit Annemarie immer so: sie hatte zuerst mächtig Appetit, und kam dann das Essen auf den Tisch, so war sie auch schon wieder satt.
„Du gehst gleich nachher ins Bett und nimmst dir deine Wärmflasche“, fuhr Frau Frobel fort. „Und morgen, in der Mittagstunde, fahrt ihr wieder spazieren, du und Edda. Wir haben jetzt immer Sonnenschein, das wird euch gut tun, dir ganz besonders, der Geheimrat ist auch dafür. Ihr werdet euch hübsch die Pelzschuhe anziehen.“
„O ja, Mammi.“ Annemarie klatschte in die Hände und benahm sich beinahe dumm vor Freude. Sie war und blieb immer das Baby.
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