Sie trat ans Büfett und trank ein Glas Bier, denn sie hatte Durst. Dann ging sie auf der anderen Seite hinunter und liess sich die Loge aufschliessen. Noch befand sie sich allein, und wenn sie richtig voraussah, so würden die übrigen Plätze wohl auch leer bleiben, denn das Parkett wies grosse Lücken auf, trotzdem das erste Klingelzeichen bereits gegeben war.
Frau Frobel, noch im Hintergrunde sitzend, überflog rasch den Theaterzettel, auf dem sie nur unbekannte Namen fand. Dann nahm sie an der Brüstung Platz, der Dinge harrend, die da kommen würden. Nichts von einer besonderen Teilnahme war zu merken, die man sonst einem beliebten Gast entgegenzubringen pflegt. Kein festlich gestimmtes Haus wogte, keine erregte Unterhaltung ging durch die Reihen. Gemächlich kam man herein, ebenso interesselos setzte man sich und starrte den Vorhang an. Die meisten hatten wohl keine Ahnung davon, was für Erinnerungen sich mit dem Namen Emmerich verknüpften, der unten mit den drei üblichen Sternen als Gast verzeichnet war. An diesem Theater kamen und gingen die neuen Namen, sodass das Interesse daran bereits erloschen war. Nur hin und wieder sah man einen Herrn mit einem markanten Kopf stehen, dem man das Unbehagliche seines Kritikeramts schon an der langweiligen Miene ansah. Eine träge Schwüle lag über den Köpfen, etwas von einer Kunst-Gleichgültigkeit nach der erschlaffenden Arbeit des Tages, die nun auf einen gewaltigen Anstoss wartete, um sich zum Geniessen emporzuraffen.
Frau Frobel warf sich in ihren Sessel zurück und tat einen grossen Atemzug, der nur der Ausdruck ihres Unbehagens war, wohl auch ihrer stillen Angst um den Mann, der nach langer Vergessenheit den Mut gefunden hatte, sich nochmals auf die trügerischen Bretter zu wagen, die, ach, doch eigentlich nur das Brot des Künstlers bedeuteten.
Und sie sah den Abend im Opernhaus vor mehr als zwei Jahrzehnten vor sich, wo es funkelte, glänzte und gleisste von schönen, mit Brillanten besäten Frauen in ausgeschnittenen Kleidern, von Uniformen mit Gold und Orden, von Samt und Seide in Parfüm geschwängerter Luft, durchleuchtet von einem Meer des Lichts, als tout Berlin gekommen war, sich an einem neu entdeckten Tenor zu berauschen.
Damals ein blendend aufgegangener Stern, heute das letzte Verpuffen seiner Schnuppen. Sie ahnte es.
Die Ouvertüre war vorüber. Der Vorhang ging in die Höhe, und Frau Frobel liess ihr scharfes Glas nicht mehr von den Augen. Andere mochten sich an dem bunten Festbild erfreuen, aus dessen Menuettranken allmählich Rigoletto als Hauptperson herauswächst, — sie sah und hörte nur immer den einen, der vorerst durch sein prächtiges, weisses Atlasgewand mehr auffiel als durch seinen Gesang. Unzweifelhaft verfügte er noch über eine Erscheinung, die sich mit Anstand auf der Bühne zu bewegen verstand, obgleich er jetzt, da er dicker und fetter geworden war, fast zu gross für seine Umgebung erschien. Auch sein Gesicht passte nicht mehr zu dem jungen Herzog, aber das durfte man bei einem Sänger übersehen. Denn in einer Oper schlägt das Ohr das Auge tot. Und obgleich auch die Beine steifer werden, wenn das Alter kommt: die Szene ist eine Elektrisiermaschine, durch die selbst die ältesten Knochen wieder munter werden. Und hier handelte es sich um einen Mann, noch in den besten Jahren. Frau Frobel rechnete es sofort aus. Er war vier Jahre älter als sie, also war er zweiundfünfzig. Alle Achtung also vor seinem jugendlichen Feuer. Wenn nur dieses Feuer auch aus seiner Kehle käme; aber da drin musste es böse aussehen, denn es prasselte nicht in hellen Funken, sondern rang sich mühsam hervor, wie durch ein verstopftes Loch.
Die Verwandlung kam und mit ihr das Liebesduett, in dem er endlich aus sich herausgehen musste.
Jemine, wie sang er, wo war der Schmelz der einst herrlichen Stimme geblieben! Sie sah ihm an, wie er sich quälte, wie er die Kehlkopftöne herausholte, um zu täuschen. Fortwährend schöpfte er Atem zu neuer Kraft. Dabei klang die Stimme schwach, als käme sie von einem Zwerge und nicht von diesem starken Mann, der sich früher seiner gewaltigen Lunge rühmen durfte.
Wie hatte er es einst hiuausgejubelt, dieses: „Liebe ist Seligkeit, ist Licht und Leben . . .“ Und wie hatte er Ohr und Herz damit entzückt. Ja, auch das Herz! Frau Frobel liess das Glas sinken, blickte vor sich hin und lauschte nun wie traumverloren. Wenn sie auch den Sänger nicht sehen wollte, so wollte sie wenigstens den Text hören, von dem sie jedes Wort auswendig wusste . . . „Liebe gewährt uns himmlische Freuden, um die selbst die Engel uns beneiden“, hörte sie ihn deutlich singen. Unwillkürlich schloss sie die Augen und erleichterte sich durch einen stillen Seufzer.
Damit hatte er sie damals gefangen, als ihre Liebe erst Schwärmerei gewesen war; und er hatte ihr es wieder vorgesungen, als sie schon Frau war und in unbezähmbarer Sehnsucht ihm in die Arme lief. In ihrem Gedächtnis aber wurde nur immer die andere Stimme wach, die weiche und einschmeichelnde, die zauberischschöne, mit der er alles aus ihr herausgeholt hatte, was herauszuholen war; nicht diese Afterstimme da oben, die ihr Lungenblech für echtes Silber ausgab. Und doch erfasste Weh ihre Seele, denn in dieser Ruine schlummerten die Erinnerungen an ihre Mädchenträume, an die schönsten Jahre ihres Lebens. Sie hätte weinen mögen, nur wusste sie nicht recht: sollte es über sich oder über den Mann da vorn geschehen, der seinem Wrack noch so volle Segel geben konnte, ohne es von der Stelle zu bewegen.
Der Vorhang fiel. Man klatschte zwar, aber es war mehr der Beifall des Anstandes als der Wärme. Man sah es: Die Handlung ergriff, und Rigolettos Schicksal riss die Seelen mit. Irgendwo knallten ein paar hohle Hände so auffallend lange, bis der Gast vor der Gardine erschien und, die Hand auf der Brust, sich mit Anstand nach rechts und links verneigte. Der Beifall wurde nun stärker; er war gleichsam die Quittung für das todesmutige Opfer. Ein mächtiger Lorbeerkranz mit blutroter Schleife wurde aus der anderen Loge auf die Bühne geschoben und so lange hingehalten, bis der „Herzog von Mantua“ ihn mit süsslichem Lächeln ergriff, zur Mitte zurückkehrte und sich aufs neue in Verbeugungen erging, die all die stummen Beteuerungen enthielten, die er wohl am liebsten zur Feier dieser „Wiedergeburt“ ausgesprochen hätte. Nichts Fürstliches haftete ihm mehr an, — es war nur noch der Theatermann, der bekränzte Tenor, der mit einer gewissen Gönnermiene das Ruhmesgemüse entgegennahm.
In diesem Augenblick, als er noch immer seine Handbewegung machte, trotzdem das Publikum sich bereits erhob, um zu Bier und Schinkenstullen zu schreiten, kam er ihr einfach dumm vor, und sie begriff nicht, wie sie sich jemals in diesen Menschen hatte verlieben können. Dann, als ein starkes Zischen den Beifall durchschnitt, redete sie sich ein, Mitleid mit ihm empfinden zu müssen. Und der einsame Kranz, sicher von ihm selbst bestellt, hatte etwas Symbolisches für sie: er erschien ihr gleichsam als die einzige Liebesgabe, auf das Grab seiner letzten Hoffnung gelegt.
Auch Frau Frobel trat in den Wandelgang hinaus, um sich ein wenig Bewegung zu machen und bei dieser Gelegenheit dem Logenschliesser den Auftrag zu geben, ihr rechtzeitig die Garderobe zu besorgen.
Vor ihr gingen zwei Herren, von denen der eine entrüstet sagte: „Dass man so ein Unvermögen noch aus der Versenkung zieht, — mir schleierhaft. Man belästigt ja geradezu das Publikum damit. Es geht mir durch und durch, wenn ich so ein vergebliches Ringen sehe.“ Fortwährend zuckte er mit den Schultern, während sein ergrauter Strubbelkopf hin und her ging.
„Konnte er denn überhaupt mal etwas“, fragte der andere, ein noch junger Mann mit glattem Scheitel.
Der Alte blieb stehen und hob die Nase. „Aber ich bitte Sie — Emmerich, Emmerich! Der Name war ein Programm. Ganz Berlin lag ihm zu Füssen. Bis er sich die Stimme versaute.“
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