»Was für eine Krankheit hatte er denn?«
»Etwas mit den Muskeln. Er saß mehrere Jahre lang im Rollstuhl. Er wollte sterben, hat oft davon geredet. Und das kann man ja auch verstehen, das ist ja ein schreckliches Leben. So im Rollstuhl sitzen zu müssen. Und nicht tun können, was man will.«
»Der Arme.«
»Ja.«
»Wenn man sich vorstellt, dass es Leute gibt, die gern sterben wollen. Wie tragisch!«
»Ja.«
»Er kann doch noch gar nicht so alt gewesen sein?«
»Er ist siebenunddreißig geboren.«
Waltraut brachte die Kaffeekanne und schenkte beiden ein. Sie betrachtete ihn. Er hatte einen Stoppelhaarschnitt und helle Augen. Er sah ein bisschen kindlich aus. Aber nicht nur das. Es gab noch etwas anderes. Etwas, das auf Entschlossenheit hindeutete.
»Und dann tauchst du hier bei mir auf«, lachte sie. »Was für eine Überraschung. Wie hast du mich gefunden?«
»Was glaubst du?«
»Im Telefonbuch?«
Er nickte und führte seine Kaffeetasse an die Lippen.
»Gehst du oft in Konzerte?«, fragte sie.
»Was meinst du, sehe ich so aus?«
Sie wurde ganz rot am Hals.
»Ich weiß nicht. Sehen die irgendwie anders aus, Leute, die in Konzerte gehen?«
»Natürlich tun sie das, das sind vor allem alte Frauen. Meine Mutter hat mich mitgeschleppt. Sie hatte zwei Karten von jemandem gekriegt, den sie kennt.«
»Und welche Musik magst du, Franki?«
»Nun ja, alles Mögliche. Schwarze Scheiben. Sechziger Jahre.«
Sie stand vom Tisch auf und holte tief Luft. Sang dann mit klarer, voller Stimme:
»Domine Jesu,
Domine Jesu Christe, rex gloriae
Libera animas omnium fidelium
Defunctiorum de poenis inferni ...«
»Penis?«, unterbrach er sie. »Was singst du denn da?«
»Poenis!«
»Und was zum Teufel ist das?«
»Ich glaube, so was wie Rache. Oder Strafe.«
»Ist das so ein blöder sadomasochistischer Scheiß? War da nicht am Anfang auch was mit Domina?«
»Nein, Franki! Das ist doch Mozart. Das ist das, was ich gestern gesungen habe. Wie hörst du denn zu? Hast du es schon vergessen?«
Sie schob ihm den Teller hin. Er nahm ein paar Kekse, legte sie aufeinander und biss ab.
»Und du?«, fragte sie. »Was machst du?«
»Ich arbeite ab und zu bei meiner Mutter.«
»Was? Feilst du den Leuten die Nägel oder was?«
Er wurde rot, sie begriff, dass sie ihn verletzt hatte. Schnell wechselte sie das Thema.
»Franki, vielleicht kannst du mir bei einer Sache helfen. Ich weiß nicht, wie ich es allein schaffen soll. Ich war gerade dabei, als du gekommen bist, bin vom Bett gefallen und habe mir wehgetan. Ich traue mich nicht, es noch einmal zu probieren.«
»Was denn?«, fragte er mürrisch.
»Komm, dann zeige ich es dir.«
Sie gingen ins Schlafzimmer. Der Stuhl lag noch auf dem Boden, die Engel waren in eine Ecke geflogen. Vorsichtig hob sie einen auf, hielt ihn gegen das Fenster.
»Der ist ja stark!«, rief er aus.
»Gefällt er dir?«
»Ja.«
»Ich habe versucht, sie festzumachen. Über dem Bett. Aber ich schaffe es nicht.«
Er schaute sie an, nahm gewissermaßen Maß.
»Nein, das kann ich verstehen.«
»Es wäre so schön, wenn sie sozusagen über mir schweben würden. Wenn ich im Bett liege. Wie zwei Schutzengel.«
Er lachte, auf seinen Wangen zeigten sich kleine Grübchen.
»Ich helfe dir, Waltraut. No problem.«
Nachdem er gegangen war, legte sie sich der Länge nach aufs Bett. Die beiden Engel hingen jetzt einen halben Meter von der Decke herab, direkt über ihrem Gesicht. Sie waren an zwei Haken befestigt, und sie selbst hatte sie eingeschraubt. Ein merkwürdiges Gefühl stieg in ihr auf, als sie daran dachte, ein prickelnder Druck im unteren Teil des Bauchs.
Er hatte es auch nicht geschafft, an die Decke zu kommen. Er war auf den Stuhl gestiegen, und sie hatte versucht, den Stuhl festzuhalten, wobei dieser aber gefährlich knackte, sodass er beschloss, lieber wieder herunterzusteigen, bevor er zusammenbrach. Er hatte eine Weile dagesessen und überlegt, wie sie es anstellen könnten, den kräftigen Nacken gebeugt, den breiten Rücken auch. Dann war er mit einer schnellen, unerwarteten Leichtigkeit aufgesprungen.
»Ich hab’s. Ich werde dich hochheben. Du kannst auf meinen Schultern sitzen, dann schaffen wir es.«
Das hatte so einfach geklungen, als er es gesagt hatte. Er hatte ihren Werkzeugkasten geholt und einen Pfriem herausgezogen, ihr erklärt, dass sie zuerst zwei Löcher in die Decke drücken müsste, damit die Schrauben einen Halt finden konnten.
»Du kannst doch keinen Nagel dort einschlagen, da muss ein Haken hin!«, wies er sie zurecht. »Wie sollen sie denn sonst da hängen? Aber Frauen kriegen das schon hin, was? Ja, ja.«
Er ging in die Knie und forderte sie auf, sich auf seine Schultern zu setzen. Sie nahm leicht den Geruch von Achselschweiß wahr. Ihr Unterleib wurde gegen sein Hemd gepresst und unter ihr wurde es warm und hart, wie ein angespannter, kontrollierter Schwindel. Als er sich erhob, hielt sie sich schnell an seiner Stirn fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Geht’s?«, hörte sie seine Stimme.
»Ja«, murmelte sie. »Ich denke schon.«
Langsam und vorsichtig richtete er sich auf, stand breitbeinig da. Sie hatte die ganze Zeit ein wenig Angst, aber er hielt ihre Beine in festem Griff.
»Franki, du fällst doch nicht hin«, flüsterte sie.
»Dazu sind schon andere Dinge notwendig, dass ich hinfalle!«
Schließlich stand er kerzengerade da und sie kam oben an. Da wurde sie ganz ruhig.
»Was für ein Glück, dass du gerade jetzt gekommen bist«, rief sie in einer Art fröhlichen Übermuts. »Als ob ich dich bestellt hätte!«
»Ach, ich habe das eben gespürt. Waltraut needs me, habe ich gedacht. Und dann habe ich alles stehen und liegen lassen und bin losgelaufen.«
»Sonst hilft mein Vater mir immer«, erklärte sie. »Mit allem, was ich nicht kann.«
»Hast du keinen Freund?«
»Nein. Im Augenblick nicht.«
Während sie da oben auf seinen Schultern saß und die Decke bearbeitete, brach sie plötzlich in lautes Lachen aus.
»Wenn uns jetzt jemand sehen könnte!«, prustete sie los.
»Reiß dich zusammen«, ermahnte er sie, lachte dann aber auch los, seine Schultern hüpften unter ihren Schenkeln.
»Was für ein Anblick das wohl ist!«
»Darüber können wir uns später Gedanken machen. Jetzt schraube die Haken rein. Und pass auf, dass wir dabei nicht umkippen!«
Schließlich war alles fertig. Die Engel hingen dort, wo sie hängen sollten. Franki und Waltraut standen in der Türöffnung und bewunderten sie.
»Danke für deine Hilfe«, sagte sie.
»Aber du warst es doch, die die Arbeit gemacht hat.«
»Das stimmt ja so nun nicht.«
Er sagte, er müsse jetzt gehen. Er habe seiner Mutter versprochen, nach der Lichterkette in ihrem Schaufenster zu sehen. Die würde die ganze Zeit ausgehen, irgendwas war daran kaputt.
»Bis bald«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. Er nahm sie und hielt sie fest.
»Wirklich, Waltraut? Bis bald?«
Sie nickte.
»Ja, das hoffe ich doch.«
Nein. Sie hatte im Augenblick niemanden. Früher war es Staffan gewesen, er sang im Chor und sie waren mehrere Jahre lang zusammen gewesen. Das ist keine leidenschaftliche Sache gewesen, eher eine Freundschaft mit kurzem, peinlichen Beischlaf, weil das nun einmal dazu gehörte. Eine Zeit lang war sie in einen Gastdirigent verliebt gewesen, aber das hatte sich nicht weiter entwickelt. Er hatte sie eines Abends, als sie in einem Krankenhaus gesungen hatten, geküsst und sie dann in seinem Auto zu dem Hotel gefahren, in dem er wohnte.
»Du bist schön, Waltraut«, hatte er gemurmelt und ihren Kopf zwischen seine schlanken Hände genommen.
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