1 ...6 7 8 10 11 12 ...26 – geschrieben, daß sie hinrichten muß. Vielleicht widmet sie sich nach dem Abitur der Theorie. Doch selbst wenn sie aktive Henkerin werden sollte, kann niemand von ihr verlangen, daß sie jemanden etwa mit Zangen reißt oder aufs Rad flicht. Sie wird ausschließlich Strafen vollstrecken, die heute in der zivilisierten Welt gesetzlich verankert sind. Läßt man das Erschießen außer acht, das aus alter Tradition den Soldaten vorbehalten ist, so sind dies in Europa alles in allem die Garrotte, die Guillotine und der Strang. Amerika ist etwaigen Henkerinnen schon entgegengekommen, als es begann, durch Elektrizität und Gas hinzurichten, denn beides ist den Frauen –
fuhr Professor Wolf fort, an Frau Tachecí gewandt,
– aus jeder modernen Küche vertraut. Es kann behauptet werden, daß der Scharfrichter heutzutage seine Arbeitskleidung viel seltener in die Reinigung gibt als ein Arbeiter den Overall. Und das ist alles –
fuhr Professor Wolf fort, an Doktor Tachecí gewandt,
– was ich zu Ihrer Bemerkung anmerken wollte, und nun –
sagte er, an Dozent Schimssa gewandt und mit einem Blick auf die Uhr, die fünf Minuten vor fünf anzeigte,
– gehen wir. Nein, nein, gnädige Frau –
fügte er noch hinzu, als er sah, wie Lízinkas Mutter Atem holte, um ihn vielleicht weniger fundiert, aber um so temperamentvoller zu unterstützen,
– der Herr Gemahl hat unbestritten das Recht, meine Argumente in Ruhe zu überdenken und sie entweder so leicht zu finden, daß eine wissenschaftliche Kontroverse sich erübrigt, oder aber so gewichtig, daß er um die Aufnahme Ihres Töchterchens schriftlich ansucht. Denn wir, Herr Doktor, haben wiederum unbestritten das Recht, aus der Flut von Bewerbern diejenigen auszuwählen, denen es auch an gutem Hinterland nicht mangelt. Zahlreiche verdiente Scharfrichter würden wer weiß was dafür geben, damit wir ihre Sprößlinge aufnehmen. Wenn wir jedoch dem überholten Brauch des Familienbetriebs ein Ende bereiten und auch den Kindern von Sprachwissenschaftlern eine Chance geben wollen, dann müssen wir die Gewißheit haben, daß wir dieser Konzeption zu einem vollen Erfolg verhelfen können. Wir dürfen nicht riskieren, daß ausgerechnet die erste Henkerin der Welt unter dem Unverständnis des eigenen Vaters leidet. Wenn sie auch noch von solchen Problemen belastet sein sollte, müßte sich ja jeder Delinquent bestens bei ihr bedanken. Gestatten Sie also, daß wir uns jetzt –
Professor Wolf küßte Frau Tachecí die Hand und lächelte Lízinka aufmunternd zu,
– verabschieden.
Dann bot er Doktor Tachecí freundschaftlich die Hand.
– Oh, Verzeihung, sagte er, nahm ihm das tote Huhn aus der Rechten und reichte es Frau Tachecí.
– Nach so viel Spannung, sagte er, wird die Familie ein ausgiebiges Abendessen sicher nicht verschmähen. Die Vorspeise finden Sie in der Badewanne.
– Sie werden sich doch, sagte Frau Tachecí mit belegter Stimme, nach alledem unseretwegen nicht in Unkosten stürzen!
– Aber was für Unkosten denn, gnädige Frau! sagte Professor Wolf, es gibt da den schönen alten Brauch, daß Todeskandidaten ihr letztes Essen, die sogenannte Henkersmahlzeit, beim Scharfrichter bestellen. Der hat dann Anspruch auf alles, was übrigbleibt.
– Und ihre Augen sind immer größer als der Magen, sagte Dozent Schimssa fröhlich, weil es gratis ist, lassen sie ganze Berge auffahren, und dann vergeht ihnen der Appetit. Darf ich unsere Sachen aus dem Bad holen?
Doktor Tachecí schaute entkräftet zu, wie seine Frau Professor Wolf in den Raglanmantel half. Dozent Schimssa zog sich dankend allein an. Beide Gäste gingen über die Taktlosigkeit des Gastgebers mit einem verständnisvollen Lächeln hinweg. Der Professor verbeugte sich formvollendet.
– Wir sind nicht gewöhnt, auf Wiedersehen zu sagen, sagte er, aber in diesem Falle können wir nicht umhin, wenigstens ›auf gute Zusammenarbeit‹ zu sagen.
– Entschuldigen Sie, sagte Frau Tachecí, mein Mann hat es nicht so gemeint.
Lízinka knickste artig.
– Ach, sagte Dozent Schimssa, das Gepäck in der Hand, einen Moment!
Er setzte die Milchkanne ab, kniete sich vor den Koffer und öffnete ihn. Zwischen Haken, Hämmern und Riemen lag ein eingerolltes Hanfseil. Er schnitt mit seinem Mehrzweckmesser etwa dreißig Zentimeter ab und überreichte sie dem Mädchen wie eine Blume.
– Als Glücksbringer, Fräulein, sagte er galant, es ist noch warm!
Seine Geste war so suggestiv, daß Lízinka fast daran geschnuppert hätte.
Dann legten die Gäste den weißen Handschuh an den schwarzen Hut und gingen.
Bevor ihre Schritte im Treppenhaus verhallten, so daß sie noch Geräusche aus der Wohnung hören mußten, begab Frau Tachecí sich mitsamt dem Huhn ins Schlafzimmer, schlug die Tür zu und drehte den Schlüssel herum. Doktor Tachecí blieb mit der Tochter allein.
Nun hatte er sie völlig in der Sphäre seines intellektuellen Einflusses, aber die Kraft, die ihn vor kurzem noch befähigt hatte, zum erstenmal im Leben eventuell auch physisch zu kämpfen, hatte sich restlos verflüchtigt. Er raffte sich nur zu einem auf: Er faßte Lízinka am Kinn, und ihre Kinderaugen blickten zu ihm empor.
– Lízinka, flüsterte er innig, wir zwei waren immer Verbündete und haben einander nie belogen. Sag mir jetzt, aber aufrichtig, könntest du wirklich Menschen hinrichten?
Lízinka zog aufrichtig die schmächtigen Schultern hoch.
– Lízinka, sagte Doktor Tachecí bestürzt, möchtest denn du, meine Tochter, wirklich lieber Henkerin werden als, sagen wir eine anständige Bäckerin oder Gärtnerin?
Lízinka senkte aufrichtig
bejahend das holde Köpfchen.
Am 1. September früh um Viertel vor acht schloß Doktor Tachecí, der vorn saß, die Augen und versuchte sich zu suggerieren, das Portal, dem das Taxi sich näherte, gehöre zur philosophischen Fakultät.
Frau Tachecí schwelgte in Erinnerungen an ihren ersten Gang zur höheren Töchterschule. Sie sah sich mit Dauerwellen, auf hohen Stöckelschuhen, in engem, kariertem Rock und knappem Pulli, der ihre schon damals heranreifende Weiblichkeit betonte. Sie mußte jedoch zugeben, daß die Tochter, obwohl eher das Gegenteil von ihr, keinen geringeren Zauber ausstrahlte. Sie versuchte sich in ihre Gedanken einzufühlen und kämpfte gegen die eigene Ergriffenheit an.
Lízinka
beobachtete den Taxifahrer. Bog er nach links ein, so ließ er die rechte Hand nach links mitlaufen. Bog er nach rechts ein, so griff er mit der linken Hand bis zur rechten über und drehte mit beiden. Fuhr er geradeaus, so hielt er die rechte Hand am oberen und die linke am unteren Rand des Lenkrads.
Der September war trocken, aromatisch und sonnig, allem haftete noch der sanfte Atem der Ferien an. Das Gebäude mit den von Gitterwerk zerteilten Fenstern und dem gepanzerten Tor, das sich wie eine Ziehharmonika öffnete, steuerte eine dunkle, disharmonische Nuance bei. Der Taxifahrer hielt während der ganzen Fahrt den Blick auf den Rückspiegel geheftet und schaltete plötzlich die Scheinwerfer ein, weil er das aberwitzige Gefühl hatte, eine Prinzessin zu kutschieren. Als er vor dem Gefängnis hielt, fragte er verwirrt:
– Wen besuchen Sie da drin?
– Unsere Tochter kommt hinein, sagte Frau Tachecí stolz. Der Mann schaute Lízinka noch einmal an und fragte verstört:
– Wieviel hat man ihr aufgebrummt?
– Ein Jahr, sagte Frau Tachecí hochmütig; dann erschrak sie ob dieser Indiskretion und verstummte.
– Diese Hunde! sagte der Taxifahrer. Sie ist ja noch ein Kind!
Dann entsetzte er sich über die eigene Courage und fuhr davon. Der Wachtposten studierte eingehend Lízinkas Personalausweis und Passierschein. Dann sagte er:
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