»Was wissen wir eigentlich?« Roger zog sich den Sicherheitsgurt über die Brust.
»Nicht viel, ein paar Kinder haben den Toten durch den Briefschlitz entdeckt. Die Mutter von einem Kind, ich glaube, es war ein Junge, hat uns verständigt.« Cato Isaksen rückte den Spiegel gerade. »Wahrscheinlich liegt er da schon seit einigen Tagen.«
Roger Høibakk warf die Kaugummipackung aufs Armaturenbrett und zog einen schwarzen Kamm aus der Hosentasche. Der Kamm war leicht abgerundet. Er klappte die Sonnenblende herunter und kämmte sich seine vollen schwarzen Haare nach hinten.
Cato Isaksen schwitzte in der Frühlingssonne, und die Eitelkeit seines Kollegen versetzte ihm einen Stich der Irritation. Die Fensterscheiben des Wagens waren von eingetrockneten Regentropfen bedeckt. Eine dünne Schicht grauen Frühlingsstaubes lag auf dem Armaturenbrett. Der Schmutz ließ seine düstere Stimmung noch tiefer sacken.
Es fiel ihm nicht schwer, sich Sigrids resignierten und verärgerten Gesichtsausdruck vorzustellen. Auf irgendeine hoffnungslose Weise hielt Sigrid es immer für seine Schuld, wenn irgendwer sich umbringen ließ.
»Ist dein Leben problematisch, mit den Jungs und allem Hin und Her, meine ich?« Roger musterte seinen Kollegen ernsthaft.
»Wenn ich gewußt hätte, worauf ich mich da einlassen würde, also, weiß der Kuckuck«, sagte Cato leise und seufzte. »Ich bin zu alt für so was. Und der Kleine schläft nachts ja so gut wie nie.«
»Aber deine Freundin scheint doch ganz in Ordnung zu sein!«
»Himmel, ja, das ist nicht das Problem. Ich muß bloß auf so verdammt viele Menschen Rücksicht nehmen.«
»Und teuer ist das bestimmt auch.«
»Das kannst du wohl sagen«, bestätigte Cato Isaksen und mußte zu dem schallenden Lachen des anderen einfach lächeln.
»Was hältst du von den Eutern unserer neuen Juristin?« grinste Roger Høibakk.
Cato Isaksen gab keine Antwort. Eine alte Frau ging bei Rot über die Ampel beim Zeitungskiosk in der Bygdøyallé. Er stieg auf die Bremse. »Blöde Kuh!«
»Ich find’ die enorm, wirklich.«
»Was?«
»Die Euter. Die von Pia Halvorsen.« Roger Høibakk kurbelte das Fenster nach unten und spuckte sein Kaugummi aus.
»Werd’ mal ein bißchen genauer an ihr herumschnuppern«, sagte er dann. »Und überhaupt, es ist Frühling. Hast du eigentlich von diesem Dussel in Grønland gehört, so einem Gemüseheini aus der hintersten Walachei, der kurz weg mußte und einen Zettel an seine Tür gehängt hat? Weißt du, was auf dem Zettel stand?«
Cato Isaksen schüttelte geistesabwesend den Kopf.
»Bißchen weg, plötzlich zurück, stand da.« Roger Høibakk legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Cato Isaksen sah kurz zu ihm hinüber und lächelte. Er konnte sich nicht erinnern, Roger jemals schlechtgelaunt erlebt zu haben. Er selber fühlte sich nicht sehr wohl. Wußte nicht so recht, warum. Entweder brütete er eine Krankheit aus, oder das Chaos um ihn herum wuchs ihm über den Kopf. So kam es ihm zumindest vor. Immer häufiger ertappte er sich dabei, wie er in Gedanken die letzten beiden Jahre durchging. Und sich fragte, was eigentlich schiefgegangen sei. Warum hatte er Bente überhaupt verlassen?
Sigrid, jetzt war er mit Sigrid zusammen. Sollte mit ihr zusammensein. Ein schales Gefühl von Kopie, von Wiederholung, stieg in ihm auf. Im nachhinein wirkte alles wie eine scheinbar zufällige Wiederholung. Wie eine für alle Beteiligten fatale Wiederholung. Ein Sommer wurde zu einem Jahr. Ein Winter zum Frühling. Jetzt war wieder Frühling. Nach dem Frühling kommt der Sommer. Immer wieder. Er fühlte sich gefangen in einem Karussell, das sich immer schneller drehte. Er kam einfach nicht mehr mit. Er konnte jeden Moment herausfallen, alles aus dem Griff verlieren. Der Richtungsverlust war nicht nur ein navigatorisches Gefühl. Sondern ein psychisches Erlebnis. Seine Sinne waren außer Kontrolle geraten. Dieses unbekannte dunkle Loch hatte seine Gefühle beschlagnahmt. Es steckte hinter seiner Stirn und tat weh.
Daß er in Mordfällenermitteln mußte, ließ ihn nicht unbeeinflußt, das ging sicher allen so. Er dachte allerdings erst seit kurzem darüber nach. Seine Arbeit erinnerte ihn immer wieder daran, wie einzigartig es ist, ein Mensch zu sein. Aber auch unmöglich und tragisch. Das Unmögliche am Menschsein ist, daß der Tod das einzig mögliche Ende darstellt. Das ist für alle Menschen so. Aber die meisten anderen können ihn vor sich herschieben, ihn bei ihren Alltagsbeschäftigungen verdrängen. Er aber trug ihn immer auf den Schultern.
Natürlich war die ganze Maschinerie im Trudvangvei in Gang. Im Hinterhof wimmelte es nur so von Uniformierten aus der Ordnungsabteilung. Irgendwer redete mit der Schar von Neugierigen, die hier zusammengeströmt waren. Einer hatte den weißen Behälter in der Hand und zog weißrotes Absperrband von Geländer zu Geländer, um der Spurensicherung Unbefugte vom Hals zu halten. Dieses Band erinnerte Cato Isaksen immer an die Zuckerstangen aus seiner Kindheit. Sofort mußte er an den Tierpark draußen am Mossevei denken. An den Geschmack der rotweißgestreiften Dauerlutscher.
Im Treppenhaus wurden die Stufen abgesaugt und die anderen Spuren gesichert. Im Erdgeschoß lugte neugierig eine alte Dame durch einen Türspalt.
Auch in der Wohnung im ersten Stock wimmelte es nur so von Leuten. Als Cato Isaksen und Roger Høibakk am Tatort eintrafen, erfuhren sie, daß der Tote vermutlich Svend Ivar Therkelsen hieß und neununddreißig Jahre alt war. Der Mann war natürlich noch nicht identifiziert worden, aber das Foto in seinem Führerschein legte die Annahme nahe, daß Therkelsen gleich hinter der Tür zu dieser Wohnung im ersten Stock auf dem Rücken lag.
Cato Isaksen stieg über die Leiche hinweg. Noch immer, nach all den Jahren, durchfuhr ihn beim Anblick des Todes ein kalter Schauer. Und bei ihm handelte es sich zumeist nicht um irgendeinen, sondern um einen brutalen und oft unbegreiflichen Tod. Noch immer tauchten ausdruckslose Totenmasken aus Jahre zurückliegenden Fällen vor seinem inneren Auge auf. In Verwesung übergegangene Leichname, schreiende, verzerrte Gesichtsausdrücke. Etwas prägte sich ihm immer ein, an etwas konnte er sich später immer noch erinnern. Meistens handelte es sich dabei um Bagatellen. Er blieb stehen und betrachtete die Leiche. Welche Erinnerung würde ihm wohl diesmal bleiben? Vielleicht der eine Arm, der sich mit erstarrten, leeren, ringlosen Fingern seitwärts ausstreckte? Oder die Haut der Fingerspitzen, die sich blau verfärbte? Oder der geruchlose Mantel des Nichts, der sich mattglänzend über das Gesicht des Mannes gezogen hatte? Auch das war eine Gesellschaft. Die Todesgesellschaft der Stille. Ein Rahmen, ein zufälliger Raum endlosen Endes. Ein hoffnungsloses Gefühl, an einem Fragment der Wirklichkeit des Globus teilzunehmen, das überhaupt nicht existieren dürfte.
Der andere Arm lag auf dem Bauch des Mannes und war von dunklem, geronnenem Blut bedeckt. Der Tote schien die Hand auf die Stichwunde zu drücken, um die Blutung aufzuhalten, oder vielleicht, um festzustellen, ob es denn wirklich stimmte, ob er wirklich in Bauch und Brust von mehreren tiefen Stichen getroffen worden war. Solche Morde geschahen zumeist sehr schnell. Der Mund stand offen. Der Kopf war halb nach hinten gedreht, als wolle der Tote die abgebeizte Kommode anschauen, das Telefon, das stumm dort oben thronte. Unter dem Telefon lugte eine rote Broschüre hervor, eine Werbung für ein Fitneß-Center beim Ullevål-Stadion. Fit in den Sommer, stand in schwarzer Druckschrift darauf. Das Absurde dieses Satzes, in Anbetracht der Situation, richtete die Aufmerksamkeit des Polizisten noch zusätzlich auf diese Broschüre. Er zog sie unter dem Telefon hervor. Jemand hatte oben in die linke Ecke eine Art Einkaufsliste geschrieben. Brathähnchen, Reis, Salat, Bier, Gummibärchen, Brot, Milch stand dort ordentlich untereinander.
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