»Ich kann mir keine größere Wohnung leisten, so lange du auf dem Haus sitzt«, entgegnete Cato kalt.
Später, als er den Hörer auf die Gabel gelegt hatte, merkte er, daß dieses Gespräch wie eine Eiterbeule in seiner Brust saß. Die Jungen waren unglücklich. Das wußte er doch selber. Er war bereit, die Mittwochsbesuche aufzugeben. Plötzlich überkam ihn der Drang, Sigrid zu verteidigen. Sie gab sich doch alle Mühe. Oder vielleicht doch nicht?
Sigrid kam mit Georg auf der Hüfte aus dem Badezimmer. »Wer war denn das?« fragte sie.
»Bente«, antwortete er mürrisch.
»Was wollte sie?«
»Reden.«
»Worüber denn?«
»Über die Jungen, natürlich. Worüber denn sonst?« Er erzählte ihr nichts von der neuen Abmachung. Beschloß, das erst später zur Sprache zu bringen.
Sigrid trug das Kind in die Küche. Ihre heftige Bewegung tat ihm im Kopf weh. Sigrid überlegte. Sie wußte, daß ihr Leiden feige und dumm war, und daß es nur daran lag, daß sie so bewußt litt. Ich könnte den beiden Jungen wirklich etwas antun, dachte sie.
Sie öffnete den Schrank, ein Messer oder eine Gabel fiel zu Boden. Sie sah nicht genauer hin. Sie ging zur Tür zurück. Sie sah aus, als ob sie noch mehr zu sagen habe.
Bente legte leise auf.Als Cato eine andere gefunden und sie und die Jungen verlassen hatte, war sie in einem Zustand versunken, von dem sie vorher keine Vorstellung gehabt hatte. Sie hatte davon gehört, hatte ihn von außen bei anderen gesehen. Sie mußte zugeben, daß Trauer ein Leben auf fatale Weise ändern konnte. Die Trauer war eine Ratte. Sie konnte alles, was es in einem Körper gab, zerstören und zum Einsturz bringen.
Plötzlich konnte einer der Jungen fragen: »Was ist los? Bist du krank?«
Sie mußte sich zusammenreißen. Schon verlor sie die Hausarbeit aus dem Griff. Sie ertappte sich dabei, wie sie ins Zimmer der Jungen schaute. Die Unordnung ärgerte und empörte sie. Aber sie sagte nichts. Sie ertappte sich dabei, daß sie sehr lange in der Tür stand.
Die Gegenstände in der Wohnung sahen jetzt anders aus. Sie hätten auch neu sein können. Sie hatten andere Formen, andere Farben angenommen.
Aus den ersten Tagen nach Catos Auszug erinnerte sie sich am besten an das Gefühl, in einer Schachtel zu stekken, einer chinesischen Schachtel. Sie, die normalerweise ausgeglichen und realistisch war, wurde zeitweise von grauer Angst überwältigt, und sie empfand eine Einsamkeit, die zu einem unüberwindbaren, tiefen See heranwuchs.
Das erschreckendste an diesem See- und Schachtelgefühl war die Finsternis. Sie träumte. Jede zweite Nacht träumte sie von Wasser und finsteren Schachteln. Sie war eingesperrt oder kurz vorm Ertrinken.
In mehreren Träumen tauchten Tannenzapfen aus ihrer Kindheit auf. Braune Tannenzapfen mit Streichholzbeinen. Sie standen am Ufer, sahen aber nicht aus wie Tiere. Sie erkannte den verbotenen Geschmack von nassem Schwefel, als sie die Streichhölzer in den Mund steckte. In der chinesischen Schachtel steckten dünne Schichten aus Seidenpapier, aus denen sie Lampions falten sollte. Aber das schaffte sie nicht. Und ohne die Lampions wurde es immer noch finsterer. Einmal lag sie zusammengekrümmt in einer finsteren Ecke. Sie war in einen kleinen Tannenzapfen verwandelt worden. Sie trug ein blaues Seidenpapierkleid. Und dann kam ein großes Eichhörnchen und fing an, sie anzunagen.
Bente schob diese Gedanken weg, ging in die Küche und nahm sich etwas zu trinken. Ihr hatte vor diesem Anruf gegraust. Das Telefon war ein unüberwindliches Raubtier gewesen.
Auf dem Küchentisch stand ein Fleißiges Lieschen in einem blauen Topf. Das Telefon klingelte. Sie ging nicht hin.
Ehe sie diese Sigrid kennengelernt hatte, diese berühmte andere, hatte sie Sigrid ganz selbstverständlich für eine Schönheit gehalten. Die andere war immer eine Schönheit. In ihrer Phantasie war die andere zu einer Frau geworden, die alles hatte, was ihr selber fehlte. Seither hatte sie es sehr oft bereut, daß sie ihn einfach freigegeben hatte. Wie sollte er begreifen, wie unglücklich sie in ihrer Einsamkeit war! Das Gewicht ihrer Gedanken zwang sie dazu, die Augen zu schließen. Nach einer Weile öffnete sie sie wieder.
Im Küchenfenster sah sie ihr Spiegelbild. Sie hob das Glas an den Mund. Starkes Mitleid überkam sie. Und dieses Mitleid galt ihnen beiden. »Armer Cato«, sagte sie zum Fenster.
Die andere war eine ganz normale Frau mit kurzen braunen Haaren und Sommersprossen. Die andere war die Mutter seines neuen Kindes. »Arme Bente«, sagte sie.
Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Das Zimmer heulte ihr lautlos entgegen. Sie schaltete den Fernseher ein. Ließ das Bild einen Ort sein, an dem ihre Augen sich ausruhen konnten. Sie drehte den Ton leise.
Sie konnte nicht behaupten, ein Teil von ihm zu sein, das kam ihr dumm und altmodisch vor. Aber sie war eben doch ein Teil von ihm. Sie waren so lange zusammen gewesen. Hatten zwei Kinder zusammen bekommen, waren achtzehnmal zusammen in Urlaub gefahren. Hatten achtzehnmal Weihnachten, siebzehnmal Ostern und siebzehnmal Hochzeitstag gefeiert. Und trotzdem war er eines Tages einfach so gegangen, als ob ihm das alles niemals etwas bedeutet hätte!
Sie schaltete den Fernseher aus. Stand auf und legte eine CD ein.
Die Musik breitete sich im Zimmer aus. Kroch in Bentes Whiskyglas, untersuchte ihre Seele und streichelte behutsam ihre unsichtbaren Narben. Daß ein Mann geht, kann die Sterne am Himmel nicht versetzen, dachte sie trotzig und legte sich mit dem Rücken aufs Sofa. Ihre Seele war hautlos. Die Gedanken berührten sie und taten ihr weh. Sie schloß die Augen. Sie endete, und die Musik endete. Die Musik verzehrte die Möbel und gab dem Zimmer ein anderes Gesicht.
Drei Bilder vom Karnevalin Venedig. Die Illustriertenfotos zeigten Menschen in Dominos und Masken, die auf einer gewölbten Brücke standen. Eine Gondel verschwand gerade unter dieser Brücke. Auf einem Bild kehrte ein Kind der Kamera den Rücken. Alles an diesem Kind verriet, daß es etwas Erschreckendes sah.
Die Frau in der Telefonzentrale des Polizeipräsidiums schloß die Zeitschrift und steckte sie in die Handtasche, während sie gleichzeitig zum Telefon griff. »Ja, einen Moment«, sagte sie und stellte einen Mann zur Kriminalbereitschaft durch.
Es war Dienstagmorgen, der 23. April. Dem Mann war sein Auto gestohlen worden. Zwei nebeneinanderliegende Reihenhäuser hatten nächtliche Einbrüche in ihre Garagen gemeldet. Eine Frau rief aus dem Frauenhaus an, um einen gewalttätigen Mann anzuzeigen. In ihrer Stimme lag ein leichtes zweifelndes Beben. Sie schien von Tag und Nacht ein wenig belastet zu sein.
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