Während Cheryl für ihren Sohn Kartoffeln und Tomaten zerdrückte, fiel ihr auf, daß die Frau gegenüber sie anstarrte. Cheryl dachte daran, wie fremd sie sich am ersten Tag hier gefühlt hatte, und sie wußte, daß die andere sich darüber wunderte, daß sie hier ruhig saß und lächelte und sich mit alltäglichen Fragen wie Fleisch oder kein Fleisch befaßte. Mit Barbiepuppen und zerdrückten Tomaten.
»Leg jetzt deine Barbie weg«, sagte Cheryl und nahm ihrer Tochter freundlich die langgliedrige Puppe mit den spitzen Brüsten aus der Hand.
»Aber die muß doch auch essen!« rief Tina.
»Das kann sie nachher noch«, sagte Cheryl ruhig und legte die Puppe neben sich auf den Hocker.
Sonja Pettersen streckte die Hand nach der Schüssel mit den Koteletts aus. Ihre Haare hatten rötlichen Glanz, sie war sehr dünn und zeigte einen Hang zu Kunstgewerbe und Hausfleiß. Ihre braune Batikweste war von rostroten und dunkelgelben Streifen überzogen. Zwischen den Streifen bildete sich ein Muster aus schwarzen Kreisen, die in eine Art lila Kern übergingen. Cheryl war hingerissen von diesen winzigen lila Flecken, die die schwarzen Felder zum Leben erweckten. Beim Kauen spürte sie, wie eine unbekannte Stärke sie überkam. Sie merkte, wie geduldig sie mit den Kindern umging, daß sie nicht böse wurde, auch, wenn John kein Fleisch wollte, daß sie Tina nicht die Puppe aus der Hand riß, als sie die Barbie hochhob und ihren Kopf ins Essen tunkte.
Cheryl holte tief Atem und begegnete einen Moment lang Sonja Pettersens Blick, diesen starken Augen, an die sie sich nun seit neun Tagen anlehnte. Es hatte trotz allem gutgetan, hier zu sein. Sie konnte den Gedanken an die Zukunft nicht ertragen. Aber Sonja Pettersen hatte gesagt, sie müsse daran denken. Sonja Pettersen hatte es geschafft, ihr von ihrer eigenen Stärke etwas abzugeben. So kam es Cheryl jedenfalls vor. Sie lächelte die Frau mit den seltsamen Augen an, diesen Augen, in denen wie auf der Weste weit hinten kleine Flecken tanzten.
Sonja Pettersen hatte schon so manche gekenterte und zerstörte Frau wieder aufgerichtet. Durch ihre Stimme, durch ihre ruhige, realistische Einschätzung von allem. Durch ihre praktischen Lösungsvorschläge. Alles an ihr flößte Hoffnung ein. Aber Cheryl überlegte sich, daß neun Tage vielleicht ausreichten. Sicher brauchten andere jetzt ihren Platz.
»Ich möchte auch ein Bild zum Einrahmen zeichnen«, sagte Tina. »Das dann immer hier an der Wand hängen kann.«
»Auch, wenn wir wieder bei Papa sind«, fügte John hinzu. »Ich will jetzt nach Hause zu Papa.«
Cheryl versuchte, ihren Sohn anzulächeln, aber es kam nur eine erschöpfte Grimasse dabei heraus.
»Wo ist Papa eigentlich?« fragte Tina und nahm einen großen Schluck von ihrem roten Saft.
Cheryl schüttelte langsam den Kopf, ihr Mund zitterte unkontrolliert, und die Tränen füllten ihren Mund und vermischten sich mit dem Essen.
Sonja Pettersen sah sie an und sprang auf. Sie sagte den Kindern, sie sollten sich selber ihr Eis holen. Sie öffnete die untere Kühlschranktür. Alle drei, Tina noch immer mit Barbie in der Hand, stürzten los, fielen auf die Knie und starrten in die Kälte hinein. Hugo Wift lachte laut. »Danach könnt ihr euch ins Fernsehzimmer setzen«, sagte er lächelnd.
So tief saß also das Gefühl neuer Stärke. Die Tränen ließen die Gesichter der anderen Frauen verzerrt aussehen. Wie graue Wolken. Cheryl Therkelsen senkte den Kopf und starrte ihre Finger an. Sie erinnerten an Gitter. Ihr Körper wurde zum Schatten.
Sonja Pettersen legte Cheryl ihre warme Hand auf die Schulter und bat sie, mit ihr in das kleine Büro zu kommen. Dort sagte sie ihr, sie müsse anderswo Kraft finden, sie dürfe nicht zuviel von sich verlangen. »Du leidest unter einer Müdigkeit, die viele tausend Jahre alt ist«, sagte sie. »Die kann nicht innerhalb von neun Tagen wie ein schwarzer Drache verdampfen.«
Auf dem Heimweg amMontagnachmittag überkamen Cato Isaksen bohrende Kopfschmerzen, es war fast schon ein Migräneanfall, der sich mit heftigem Stechen von der einen Seite seines Kopfes her wie spitze Metalldrähte in seine Stirn bohrte. Er schaltete das Autoradio aus, in dem Bob Marleys Musik gerade einer harten Nachrichtenstimme gewichen war. Er mußte anhalten und blieb am Straßenrand gleich bei der Ampel vor dem Autonomenzentrum stehen. Er drehte den Motor aus und lehnte die Stirn aufs Lenkrad, während er spürte, wie der Brechreiz in Wellen aus seinem Magen den Hals hochrollte. Außerdem war er in die falsche Richtung gefahren. Was wollte er bei den Autonomen? Cato Isaksen merkte, wie die Angst seinen Brustbereich umklammerte. Unsere Brust ist unser Gefängnis. Unsere Rippen sind die Eisenstangen, die verhindern, daß wir ersticken.
Er taumelte aus dem Wagen. Die scharfe Frühlingsluft umschloß ihn und erleichterte ihm das Atmen. Eine Frau, die ihm auf dem schmutzigen Bürgersteig entgegenkam, hielt seinen Blick gefangen, als ob sie glaubte, er brauche Hilfe. Cato Isaksen wandte sich abweisend ab, und die Frau ging ruhig weiter. Er starrte zu der schreienden Munch-Frau oben an der heruntergekommenen Mauer hoch. Was hatte Bergliot Behrens aus ihrem Wohnzimmer entfernt?
Der stechende Schmerz in seinem Kopf verschwand so schnell, wie er gekommen war. Er wich einer plötzlichen Wut. Jetzt wollte er der Alten wirklich keine Ruhe mehr gönnen! Schließlich lag bei ihr vielleicht der Schlüssel zur Lösung.
Er stieg rasch wieder ins Auto, ließ den Motor an und fuhr schnell und genervt an der Nationalgalerie vorbei, dann am Schloß und weiter durch die Bygdøyallé. Weiter unten bog er nach rechts ab und fuhr am Frognerpark vorbei über die Majorstu-Kreuzung, bis er denn endlich im Trudvangvei einen freien Parkplatz fand.
Er lehnte am Türrahmen, als eine überrasche Bergliot Behrens langsam die Tür öffnete. Der Geruch von altem Mittagessen strömte aus der Wohnung.
»Ich will eine Antwort!« Cato Isaksen kam direkt zur Sache. Seine Kopfschmerzen hatten sich wirklich gelegt und etwas anderem Platz gemacht, einer wehen Müdigkeit, die ihn gereizt machte. Er gab zu verstehen, daß er in die Wohnung wollte. Die alte Dame öffnete unwillig die Tür und löste nervös die Bänder ihrer schmutzigen Schürze.
Cato Isaksen ging ins Wohnzimmer. Die Vorhänge waren aufgezogen. Er trat vor das unordentliche Bücherregal. »Sagen Sie mir, warum Sie hier etwas weggenommen haben, Sie wissen, was ich meine«, sagte er und starrte die Frau an, deren Miene sich plötzlich veränderte. Es war ein seltsamer Anblick. Ihr Körper schien in sich zusammenzusinken, ihr Rücken wurde noch krummer. Sie stand ganz still da und hielt die verschossene Schürze in der Hand. Zog den Stoff nervös zwischen ihren verkrümmten Fingern hin und her. Sie seufzte tief, ließ die Schürze auf einen Stuhl fallen und war den Tränen nahe, als sie sich umdrehte und wieder in die Diele trottete. Sie öffnete eine Tür. Cato Isaksen konnte dahinter ein Bett erkennen. Für den Bruchteil einer Sekunde stellte er sich vor, daß Cheryl Therkelsen und ihre Kinder aus dem Schlafzimmer zum Vorschein kommen würden.
Bergliot Behrens schloß leise wieder die Schlafzimmertür und brachte ihm ein kleines gerahmtes Bild.
»Ich dachte nicht, daß Ihnen das auffallen würde. Ich hatte auch keine Ahnung, daß es wichtig ist. Ich wollte einfach in nichts hineingezogen werden.«
Cato Isaksen nahm das kleine Foto mit dem rosa Plastikrahmen an. Das Bild zeigte Bergliot Behrens und eine junge blonde Frau. Vermutlich war es auf einer Bank unten im Hinterhof aufgenommen worden. Die Fliederbüsche im Hintergrund wiesen auf Sommer hin.
»Das ist vom vorigen Sommer«, sagte die alte Dame und ließ sich müde in den Sessel sinken, in dem sie auch während ihrer letzten Gespräche gesessen hatte.
»Das ist Cheryl Therkelsen, nicht wahr?« Cato Isaksen setzte sich aufs Sofa.
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