»Und das machen sie angeblich so ungefähr rund um die Uhr«, fügte Billington hinzu.
»Er heißt . . . mal sehen.« Thorsen blätterte in seinen Papieren. »Karlsen. Per Allan Karlsen. Er ist sogar zur Zeitung gegangen mit seinen Klagen.«
»Und die haben das sicher gern gedruckt, aber haben wir deshalb Grund zu der Annahme, daß er den Burschen auch erstochen hat?« Cato Isaksen nahm sich einen Apfel aus der Keramikschale.
»Im Grunde nicht, aber wer weiß«, sagte Bjørn Thorsen. »Der Ausländerhaß ist ja nicht gerade im Rückgang begriffen. Ich wundere mich oft, daß nicht viel mehr Morde begangen werden.«
»Aber diese verdammten Zettel, die bringen uns doch alles durcheinander! Das kann doch wirklich kein Zufall sein. Die Zettel sind in derselben Schrift beschrieben!« Roger Høibakk folgte Catos Beispiel und nahm sich ebenfalls einen Apfel.
Cato Isaksen stand in dem Moment auf, als Ingeborg Myklebust die Tür öffnete.
»Na«, sagte sie und legte einen Stapel Papiere auf den Tisch. »Ihr habt doch im Moment auch noch einen anderen Fall, nicht wahr?« Bjørn Thorsen und Stein Billington nickten. »Die unbekannte Leiche, die aus dem Sognsvann gefischt worden ist«, sagte Thorsen und fügte gereizt hinzu, daß sie außerdem noch die beiden Vergewaltigungen am Akerselv hatten.
Ingeborg Myklebust setzte ihre Lesebrille auf und sah die Papiere durch, die vor ihr auf dem Tisch lagen. »Habt ihr schon vorläufige technische Ergebnisse, was den letzten Mord angeht?«
»Nein«, sagte Cato Isaksen. Ihn plagte plötzlich der Hunger, der in seinem Gedärm herumnagte wie eine Ratte, obwohl er doch gerade erst einen Apfel gegessen hatte.
Die Hauptkommissarin setzte die Brille wieder ab. Sie hielt sie in der Hand und ließ ihren Blick besorgt von einem Fahnder zum anderen wandern. Bei Cato Isaksen hielt sie inne.
»Ich glaube, du übernimmst zusammen mit Høibakk den Pakistanimord und suchst nach Verbindungen zum Fall Therkelsen. Stellt fest, ob die beiden sich gekannt haben.«
Dann ließ sie ihren Blick zu Thorsen und Billington weiter wandern. »Ihr«, sagte sie, »kümmert euch heute um die beiden anderen Fälle. Ich werde versuchen, euch freistellen zu lassen. Es liegt ja auf der Hand, daß wir es mit einem großen Fall zu tun haben. Ich werde sofort ein Hilfsteam einsetzen, das euch Systematisierung und Speichern von Informationen abnimmt.« Sie nickte Cato Isaksen kurz zu, und der erwiderte ihr Nikken. Was erwartete sie wohl von ihm, Dankbarkeit?
Sie war schon auf dem Weg zur Tür, wandte sich dann aber um. »Ist dieser Therkelsen eigentlich schon identifiziert worden?«
»Sein Bruder hat das gestern gemacht.« Cato Isaksen zielte auf den Papierkorb und traf mit seinem Kerngehäuse voll ins Schwarze. Roger Høibakk tat es ihm nach, hatte aber weniger Glück.
Cato Isaksen gähnte heftig, die anderen lachten über Rogers Patzer.
»Hast du wieder schlecht geschlafen?« fragte Ingeborg Myklebust.
Er schüttelte den Kopf.
»Schläft dein Sohn noch immer nicht?«
»Geht jetzt besser«, antwortete er kurz. Er fand sie unverschämt. Er fühlte sich gedemütigt, wenn sie immer wieder auf diese negative Weise auf der Tatsache herumritt, daß er ein kleines Kind hatte. Es kam ihm vor wie umgekehrtes Herumhacken auf Feministinnen. Und die Sache ging sie doch überhaupt nichts an. Er litt unter der Macht, die sie über ihn hatte. Sie erinnerte ihn an irgend etwas, aber er wußte nicht, an was. Es hatte mit Angst und Sehnsucht zu tun.
»Wir wollen hier doch nicht persönlich werden«, sagte er verbissen, erhob sich, raffte seine Papiere zusammen und ging ruhig an der Hauptkommissarin vorbei aus dem Zimmer.
»Ich bin noch nicht fertig«, rief Ingeborg Myklebust hinter ihm her.
»Aber ich!« sagte Cato Isaksen und steuerte die Kantine an. Während er durch den Flur ging, wirbelten ihm die Gedanken durchs Gehirn. In seinem Zwerchfell saßen Ärger und Demütigung wie zwei wütende Tiere. Der Text auf den beiden weißen Zetteln tanzte vor seinen Augen.
Sigrid verpaßte dem Kleineneine trokkene Windel und legte ihn im Laufställchen auf den Rücken. Der Junge lächelte, schnappte sich ein Gummispielzeug und lutschte daran herum. Sigrid warf die benutzte Windel in den Abfalleimer unter dem Waschbecken. Danach wusch sie sich sorgfältig die Hände und öffnete den Kühlschrank. Es war Samstagnachmittag. Cato hatte angerufen, um zu sagen, daß er wohl in zwei Stunden Feierabend machen könne. Sie nahm das Hähnchen, die Packung mit tiefgefrorenen Garnelen, die Büchse mit Ananas, das Netz mit Schalotten, die Tüte Erdnüsse und die Sojasoße heraus. Dann suchte sie im Küchenschrank nach der Packung Basmati-Reis und Uncle Ben’s süßsaurer Soße.
Als Cato anderthalb Stunden später nach Hause kam, duftete es bis ins Treppenhaus. Ihm lief das Wasser im Munde zusammen, als er die Tür aufschloß.
»Das riecht aber gut.« Er lächelte und streifte seine Schuhe ab.
»Ich habe uns etwas Leckeres gekocht, und Georg war den ganzen Tag brav. Ich glaube, er wird jetzt langsam pflegeleichter«, sagte Sigrid und sah ihren Mitbewohner an. »War’s ein anstrengender Tag?«
Er nickte und warf einen Blick auf sein müdes Spiegelbild.
»Wir machen einen Wein auf«, sagte Sigrid, ging an ihm vorbei ins Wohnzimmer, öffnete die Kommode und bückte sich nach einer Rotweinflasche.
Cato sah ihr zu. Ihr Rückgrat zeichnete sich unter der dünnen graublauen Bluse ab. Ihre Nackenhaut war milchweiß. Er wußte nicht so recht, warum, aber jedenfalls hatte er ihr gegenüber immer auf irgendeine Art ein schlechtes Gewissen. Als habe er sie in eine Situation gelockt, die sie nicht verdient hatte. Als habe er ihr einen nicht mehr jungen, langweiligen Polizisten mit einer zweiten Familie in petto aufgehalst. Einen Mann, der nicht einmal so genau wußte, was er für sie empfand. Die Geburt hatte sie fast umgebracht, und das Kind hatte von Anfang an unregelmäßig geschlafen. Weil es ihr so starke Schmerzen verursachte, das Kind zu tragen, mußte sie zweimal die Woche schwimmen gehen. Und er konnte sie nur selten entlasten. Im Morddezernat der Osloer Polizei wurde eben nicht um sechzehn Uhr Feierabend gemacht.
Beim Essen sah Sigrid ihn an. Sie hatte im Gesicht und auf den Händen leichte Sommersprossen. »Ich dachte, wir könnten an einem Wochenende mal zur Hütte fahren, wir waren doch im Herbst zuletzt dort.«
Cato seufzte tief. »Ich kann nur schwer freimachen, solange der Fall nicht aufgeklärt ist«, sagte er. Er mochte das alte Ferienhaus nicht, das mitten im dunklen Tannenwald lag. Er fand, daß es in den beiden Schlafzimmern nach Schimmel roch.
Sie seufzte unhörbar. Riß sich dann deutlich zusammen, um ihm keine saure Bemerkung aufzutischen. »Und wie läuft die Sache?« fragte sie und füllte noch einmal sein Glas.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Cato Isaksen nahm sich noch ein Stück Fleisch. »Es sind neue Aspekte dazugekommen.«
»Ach.« Sigrid stand auf und schloß die Tür zum Wohnzimmer. Georg war auf dem Rücken im Laufställchen eingeschlafen. Er sah aus wie eine Puppe, wie er so mit neben dem Kopf ausgestreckten Armen dalag.
»Aber ist das nicht gut – ich meine, die neuen Aspekte? Bringt euch das denn nicht weiter?«
Er zuckte müde mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Wir haben zwei Zettel gefunden, unter zwei verschiedenen Leichen, an zwei verschiedenen Stellen in Oslo. Mit derselben Schrift und ohne Fingerabdrücke.«
»Klingt seltsam«, sagte Sigrid und fing an, den Tisch abzuräumen. »Und was stand auf diesen Zetteln?«
»Auf einem stand Schlaf du ruhig, mein Blümelein, und auf dem anderen Denn noch ist es Winter.«
»Und noch schlafen Feld und Wald, Rosen, Hyazinthen«, fügte Sigrid hinzu und öffnete die Schranktür, um die Hähnchenreste in den Mülleimer zu werfen.
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