1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 Bente mußte zum Abenddienst ins Pflegeheim. Die Jungen schliefen also wieder allein. Erst am nächsten Wochenende würden sie Cato wieder besuchen. Jedes zweite Wochenende, und jeden Mittwoch. Bente seufzte. Bisher war es gutgegangen, die Jungen nachts allein zu lassen. Sie mußte ab und zu eine zusätzliche Schicht einlegen, um mit dem Geld auszukommen. Sie wußte nicht so recht, was Gard machte, ob er sich Besuch ins Haus holte, und wenn ja, wen. Aber sie verließ sich darauf, daß er seinen Bruder nicht allein ließ.
Wenn sie die alten Menschen ansah, fühlte sie sich seit einiger Zeit zu deren hohem Alter hingezogen. Obwohl sie alle Rechte auf dieser Welt eingebüßt hatten. Sie gehörten nicht einmal mehr sich selber. Sie mußten zu einer bestimmten Uhrzeit schlafen gehen und dann zu einer bestimmten Zeit wieder aufstehen. Sie mußten essen, was ihnen vorgesetzt wurde, und sie durften nicht rauchen oder trinken. Durften nicht lieben oder verreisen. Sie hatte ihnen nicht viel zu sagen. Ab und zu empfand sie Unbehagen, wenn sie die vertrockneten Gesichter sah, die Runzeln, wenn sie sie roch. Wenn sie sah, wie der Tod mit ihnen zu flirten schien. Aber in letzter Zeit hatte Bente gemerkt, daß sie sich von diesem hohen Alter angezogen fühlte. Wie gut, zu wissen, daß man irgendwann in der Zukunft aufgeben, allem seinen Lauf lassen könnte.
Bente Isaksen stand auf und spülte ihre Tasse aus. Auf dem Küchentisch lag eine Illustrierte mit dem Bild einer Farbigen in rotem Hosenanzug. Sie schaltete das Radio ein, und eine Stimme sagte: ». . .die dunklen Tage lieben, die dampfenden Hügel . . .« Gleichzeitig fing das Telefon an zu klingeln.
Vor und hinter dem Wort steht das Zeichen, und im Zeichen liegt der Leerraum, in dem wir wachsen. Wie eine Wunde ist auch nur das Zeichen sichtbar. Aber das Auge lügt. Diese Stelle aus dem Buch fiel Cato Isaksen spontan ein, als er am Samstagmorgen die Fotos der nackten Leiche betrachtete. Roger Høibakk kam mit hektischen roten Flecken im Gesicht in sein Büro gerannt, seine schwarzen Haare lagen auf einer Seite ausnahmsweise einmal nicht glatt gekämmt. Er hielt einen Ordner in der Hand. »Erinnerst du dich an den Zettel, den wir unter der Leiche gefunden haben? Auf dem stand: Denn noch ist es Winter?«
Cato Isaksen nickte und schaute von den Unterlagen hoch, in denen er gerade herumblätterte. »Ja«, sagte er abwartend. Er sah Roger Høibakk nur selten dermaßen auf Hochtouren. »Genauso ein Zettel lag auch unter der anderen Leiche.«
»Unter welcher anderen Leiche?«
»Dem Pakistani, der, von dem Myklebust gesprochen hat.«
Cato Isaksen ließ sich im Sessel zurücksinken und schlug die Arme übereinander. Er blickte interessiert zu Roger Høibakk hoch, und der seinerseits starrte ihn an und zuckte auf französische Weise demonstrativ mit den Schultern. Høibakks Mutter war Französin, übrigens eine sehr attraktive Frau. Cato war ihr einmal begegnet. Sie war bei Rogers Geburt erst neunzehn gewesen.
»Das muß doch derselbe Mörder gewesen sein.«
»Seltsamer Zufall«, sagte Cato Isaksen.
Roger Høibakk schüttelte den Kopf. »Das kann kein Zufall sein.«
Cato Isaksen betrachtete den kleinen Stapel aus Papieren und Fotos, der vor ihm lag. »Die Leiche hat auf der Innenseite des Oberarms einen tiefen Biß«, sagte er. »Irgendwer hat sich einen Bissen von seinem Arm geschnappt. Sieh mal.« Er zog zwei Farbfotos hervor. Eins zeigte den Oberarm des ermordeten Svend Therkelsen. Roger Høibakk nahm das Bild und starrte das groteske Foto voller Abscheu an. »O verdammt!« sagte er und warf das Foto zu Cato zurück. Cato konnte es gerade noch schnappen, ehe es zu Boden fiel.
»Im Bericht steht etwas von deutlichen Zahnabdrükken.«
Roger mußte einfach immer weiter kurze Blicke auf dieses Foto werfen. Weiße Haut, ein dunkles, braunes Loch, ein Biß mit blauen und braunen Rändern.
»Meinst du, daß der Mörder den Mann erstochen hat, um ihn danach auszuziehen, ihm in den Arm zu beißen und ihn dann wieder anzuziehen?« Roger setzte sich auf den Stuhl auf der anderen Schreibtischseite »oder war der Mann nackt, als er ermordet worden ist?«
Cato Isaksen schüttelte den Kopf. »Der Biß ist ihm ein oder zwei Tage vor dem Mord verpaßt worden. Bei seinem Tod war er demnach nicht nackt.«
»Wirklich populär, der Knabe.« Roger Høibakk schüttelte den Kopf. »Und seine Frau?«
Cato Isaksen gab keine Antwort.
Roger Høibakk warf einen Ordner vor Cato auf den Tisch. »Hier, das ist der ungeklärte Mordfall in Groruddalen – hier steht, daß unter der Leiche des siebenundvierzigjährigen Pakistanis Bashir Khan, der am 2. Januar dieses Jahres ermordet und noch am selben Tag von Freunden gefunden wurde, ein Zettel lag, auf dem stand: Schlaf du ruhig, mein Blümelein.« Ruhig schlug Roger Høibakk den Ordner auf, lehnte sich lächelnd zurück und zog zerstreut den Kamm aus der Hosentasche. Beim Reden zog er sich den Kamm durch die Haare und steckte ihn dann wieder weg. Cato Isaksen dachte, wenn später irgendwer Roger fragen sollte, ob er innerhalb der letzten Stunde seinen Kamm benutzt habe, dann würde er das vermutlich verneinen. Sich zu kämmen war für ihn eine Reflexhandlung geworden, die er ganz automatisch durchführte und die einen irritierenden Teil seiner Persönlichkeit ausmachte.
»Ist das dieselbe Schrift?« Cato Isaksen nahm den Ordner, den Roger ihm reichte. Er starrte die Abbildung des Zettels mit der kindlichen Bleistiftschrift an: Schlaf du ruhig, mein Blümelein. Es gab, so der Bericht, auf dem Zettel keinen einzigen Fingerabdruck. Und nun mußte er an das Zitat denken. Wie eine Wunde ist nur das Zeichen sichtbar. Eine Wunde und ein Zeichen. »Das sieht nach derselben Schrift aus, verdammt«, sagte Cato Isaksen und schlug ganz sanft mit der Faust auf den Tisch.
»Dieser Pakistani hatte doch sicher Kinder? Eins von denen kann den Zettel doch geschrieben haben.« Roger Høibakk zuckte mit den Schultern und korrigierte sich gleich wieder. »Nein, vermutlich nicht.«
»Und wie hätten die Kinder des Pakistani den anderen Zettel schreiben sollen, den wir unter Therkelsen gefunden haben?« Cato Isaksen suchte in seinen Papieren nach dem Foto des zweiten Zettels. Des Zettels, der unter der Leiche von Svend Ivar Therkelsen gelegen hatte. Er sah sofort, daß es sich um dieselbe Schrift handelte.
Damit nahm der Fall einen völlig anderen Charakter an, und Cato Isaksen benachrichtigte umgehend Hauptkommissarin Ingeborg Myklebust, Thorsen und Billington und bat sie zu einer Eilbesprechung. Als sie durch den Flur zum Besprechungszimmer gingen, erzählte Roger Høibakk mit einem unergründlichen Lächeln, daß er am Vorabend Pia Halvorsen zu einem Bier eingeladen habe. Cato Isaksen schüttelte gleichgültig den Kopf und warf einen Blick aus dem Fenster. Der blaue Himmel ekelte ihn an.
Zum Glück waren die drei anderen alle im Haus. Sie warteten offenbar voller Spannung auf Isaksens neueste Erkenntnisse.
Cato Isaksen und Roger Høibakk berichteten kurz von der Wende, die der Fall genommen hatte.
»Als erstes müssen wir den Zusammenhang finden, glaube ich«, sagte Ingeborg Myklebust eifrig und blickte ihre vier Kollegen an. Sie zupfte ihren roten Blusenkragen zurecht und streckte die Hand nach der Packung Prince Mild aus. »Ich bin froh, daß wir die beiden Fälle so schnell in Verbindung gebracht haben«, sagte sie lobend. »Jetzt müssen wir sehen, daß wir weiterkommen. Hat einer von euch sich über frühere Messermorde erkundigt, gibt es vielleicht noch mehr von der Sorte?«
Billington schüttelte den Kopf. »Das sind die beiden einzigen«, sagte er.
»Und was ist zum Beispiel mit Prostitution? Ich habe keine Anhaltspunkte, aber kann es irgendwas in dieser Szene sein?« Ingeborg Myklebust beugte sich eifrig über den Tisch.
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